11. März 2012

Der Rosenkavalier – Markus Poschner.
Theater Bremen.

15:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 14














„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, sinniert die Marschallin auch in dieser Inszenierung, die auf kompromisslose Weise Ernst macht in der Beleuchtung der nachdenklichen, Grundfragen der Existenz berührenden Ebene eines Werkes, das allzu oft ein Harnisch an parfümiertem Plunder und Schenkelklopfereien auf Schwankniveau niederdrückt. Davon heute keine Spur. Ich muß dazu sagen, daß ein solcher durchdringender Ansatz der Regie bei mir offene Türen einrennt, da ich mit der Substanz des Stückes als Komödie nicht viel anfangen kann. Das ist einfach nicht mein Humor.

Auf der anderen Seite darf es (mich) dann auch nicht verwundern, wenn die offenkundige Mehrheit der Besucher sich spätestens ab dem zweiten Akt (ja, ja ein paar „historische“ Kostüme helfen schon dabei, die Regiearbeit zu ignorieren) um ihre erhoffte Kuschelkitschklamaukseligkeit gebracht fühlt. Dabei ist es eigentlich keine Frage von fescher Uniform oder T-Shirt vom Grabbeltisch, ob Botschaften – so denn überhaupt der Versuch unternommen wird, welche auszusenden – das Herz des Zuschauers treffen oder nicht.

Doch für die Mehrzahl stellt sich das scheinbar so dar: die Zeit mag ein sonderbar Ding sein, aber man verschone uns bitte auf der Bühne mit jener, die unsere eigene ist. Warum ist das so? Ästhetische Vorlieben mögen eine Rolle spielen, verbunden mit dem Wunsch, „etwas Schönes“ zu Gesicht zu bekommen, zumal doch die Musik auch so schön ist. Was letztendlich die Frage provoziert, warum unser Heute demnach nicht für das Schöne einzustehen in der Lage gesehen wird bzw. andere, uns ferne Zeiten als trefflichere Anwälte des Schönen gelten. Die gute alte Zeit.

Eine tiefere Ursache der Ablehnung liegt wahrscheinlich in der jeweils persönlichen Definition dessen, was Oper zu leisten hat. Zum Glück besteht in der Kunst keine Konsenspflicht, so bleibt nur festzuhalten, daß der Wunsch nach einem kurzweiligen, unterhaltsamen Abend nicht mehr zu belächeln ist als das Verlangen nach einer Inszenierung, die ein Werk ernst nimmt und mehr daraus ableiten möchte als eine möglichst irritationsfreie Staffage zum Dreivierteltakt.

Und nochmal: die gute alte Zeit. Der erste Akt ist anstelle des librettogemäßen Wiens des 18. Jahrhunderts etwa zur Entstehung der Oper verortet und etabliert dieses Zeitalter als Startpunkt für die beiden großen Themen der Inszenierung: das Verhältnis der Menschen zu Besitz und Status und auf der anderen Seite der Umgang mit der unausweichlichen Vergänglichkeit. Im Laufe des Abends ergeben sich daraus neben einer Konsumkritik-Zeitreise immer wieder Momente schmerzlichster, aber auch tröstlichster Konfrontation mit den letzen Dingen.

Schön und gut, aber handelt es sich bei besagter Kapitalismuskritik nicht wieder mal um eine dieser aufgepfropften Schlaumeiereien selbstverliebter Regisseure? Ein klares Nein von meiner Seite. Einerseits ist die ganze Oper in ihrer Genese als kalkulierter Erfolg selbst ein Paradebeispiel für – wenn auch künstlerisch begründeten – Vermarktungswillen, auf der anderen Seite verdienen die in ihr gezeigten gesellschaftlichen Konventionen des bestimmenden Blut- und Geldadels einen Blick fernab verniedlichender Royal-Romantik. Besitzstände und Status definieren und legitimieren die handelnden Personen, erst die unplanmäßige Liebe der jungen Leute streut Sand ins Getriebe einer Welt, in der Seitensprünge ebenso wie Vernunfthochzeiten gefälligst ihre Ordnung haben.

Ich sehe die Gefahr, mich in meinem Überschwang für diese Arbeit, in der schieren Begeisterung angesichts einer solchen Flut an Anregungen und Einzelheiten zu verfransen. Wo anfangen und wo aufhören? Jeder Akt für sich betrachtet wartet mit mehr Regiearbeit im eigentlichen Sinne auf als manch kompletter Abend. Dreimal sehen wir bei offenem Vorhang eine Art Schaufenster, das als Vorgeschmack auf die jeweilige Epoche fungiert, in der der Akt angesiedelt ist. Wir starten unsere Zeitreise in einem Einkaufspalast der ausgehenden KuK-Ära mit seiner überreichen, detail- und materialverliebten Inneneinrichtung. Ein Triumph der Bühnenbildner. Der Beginn mit der Marschallin und Octavian findet in der Bekleidungsabteilung des Warenhauses statt, bei der morgendlichen Aufwartung weitet sich dann der Blick auf die Lobby mit imposantem Aufgang zu den anderen Abteilungen, bekrönt von einer gewaltigen Uhr. Ich wiederhole mich: welch eine Liebe zum Detail! Und so viele Ideen.

Gleich zu Beginn wird die Hosenrollen-Ambivalenz des Octavian, der ja ohnehin im Dienste der Verkleidungsposse mehrfach „die Seiten wechselt“, weitergedacht, indem er als Umkleiden-Spiegelbild der Marschallin an ihrer Reflexion Teil hat. Die Stumme Rolle des Ochs-Anhängsels Leopold gewinnt durch sein irreal-reales Auftreten und Handeln als weinseliger Amor an Witz und Poesie. Boten der Vergänglichkeit sind, neben der stets präsenten Uhr, Valzacchi und Annina, die als Todesengel und Sensenfrau in Erscheinung treten, was ihrem auf der reinen Handlungsebene eher undurchsichtigen Verhalten eine völlig andere Dimension verleiht. So betrachtet sind sie es, die auf einer zweiten Ebene die Fäden in der Hand halten. Einzig der Macht der Liebe scheinen sie sich beugen zu müssen, dies wird vor allem in den Konfrontationen mit Amor klar.

Von Werdenberg, von Lerchenau, von Faninal, dreimal „von“ und gleichzeitig drei verschiedene Vertreter einer Gesellschaft des Seins und Habens. Folgerichtig tritt Faninal als Besitzer des Kaufhauses auf, jemand, der über Besitz zu Ansehen und Titel gekommen ist. Es geht um Geltung und Güter. Die Liebe mag das höchste Gut sein, aber hier wird alles korrekt bezahlt. Davon zeugen die blitzenden Registrierkassen, davon kündet ihr Klang. Die silberne Rose als kostspieligstes Schmuckstück der Geschmeideabteilung. Beim Morgenempfang der Fürstin wird nicht allein gebuckelt und gebettelt, es wird geworben, besser noch, Werbung betrieben. Die Arie des Tenors, von Strauss vielleicht als Karikatur auf die Auskopplungsfähigkeit der Puccini-Schlager angebracht, wird denn auch gleich grammophonwirksam vermarktet, die beschwörenden Gesten und verzückten Blicke des weiblichen Verkaufspersonals tun ihr Übriges. Auch hier: absolute Akribie in der Personenregie selbst der kleinsten Nebenrollen. Dem kolonialen Großwildjäger mit seinen zimmerreinen Bettvorlegern in der Auslage möchte man am liebsten ermutigend zurufen, wenn er auf den Barden anlegt, aber halt, Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft.

Die eindringlichste Szene des Aktes indes vollzieht sich, als der Todesengel wie in einer entrückten Vision greise Damen, nackt bis auf ihre repräsentativen Hüte, die große Treppe hinabwandeln läßt. Keine Provokation, sondern schlicht ein ebenso anrührendes wie behutsames Bildnis der Vergänglichkeit, zerbrechlich und gleichermaßen kraftvoll in seiner Wirkung. Die Zeit verrinnt, nicht allein im Zeitraffer der großen Uhr, auch in den Vorzeichen einer Zeitenwende erkennbar. In schneller Folge schreiben wir das Jahr 1912 (Titanic-Schlagzeile), dann 1914 (Sarajewo-Attentat), Octavian tauscht seine Uniform gegen das feldgraue Gegenstück, schließlich die Kappe gegen den Stahlhelm.

Mit dem zweiten Akt ist ein deutlicher Anstieg an Irritation im Publikum zu spüren. Hach, die Fünfziger. Vielleicht fühlt sich ein guter Teil der Zuschauer (zu) sehr an seine eigene Kindheit bzw. Jugend erinnert, in jedem Fall ist für Erheiterung bis Ablehnung gesorgt. Dabei paßt die Einordnung der Prinzessinentraum-Schwärmereien Sophies perfekt in das kitschig-bunt-naive Ambiente des Nachkriegsjahrzehnts, nicht bloß als visuelle Entsprechung, sondern auch als gedankliche Parallele zu ihrer von Hoffnung und Aufbruchsstreben geprägten Sicht, umgeben von einer in seinen Grundfesten weiterhin konservativen, biederen und normierten Gesellschaft. Sophie, und nicht nur sie, sehnt sich nach einem schönen Leben, bonbonfarbene Insignien und frohe Werbebotschaften verheißen eine wunderbare Zukunft. Es darf konsumiert werden!

Die übrigen Rollen in diesem Gefüge sind klar verteilt: Ochs als Biedermann, dem außer an einer guten Partie vor allem an einer guten Aussteuer gelegen ist, Octavian übernimmt den Gegenpol des schmalztollenen „Halbstarken“, des lederbejackten Rebells, der Sophie aus ihrer Puppenhauswelt entführen wird. Das Kaufhaus besitzt architektonisch noch Rudimente der alten Zeit, bietet aber die ganze Wirtschaftswunder-Palette. Statt der silbernen Rose wird dementsprechend eine Porzellanfigurine überbracht, man ist begeistert, insbesondere Ochs, der auch eigens das Herstellersiegel des Geschenk-Services in Augenschein nimmt. Folglich wird er von Octavian nicht körperlich, sondern materiell verletzt – der junge Draufgänger zerschmettert die Porzellanfigur und trifft den Baron damit ins Mark.

Alle sind außer sich, als der Rocker dann mit den Produktschachteln herumwirft. Sophie übernimmt später sein Rebellentum, streift die Lederjacke über, zündet sich eine Zigarette an. Wie gleichsam naiv und treffend ist dieses Bild, in der Flucht vor den Verständnislosen per Vespa gipfelnd. Ochs selbst wittert schließlich durch die briefliche Aussicht auf das Stelldichein Morgenluft, wobei er das Schreiben aus den Händen eines durchaus reizvollen Todes erhält. Der Möchtegernverführer als Verführter – aber wer würde angesichts einer derart sinnlichen Schnitterin nicht auch einen Walzer wagen? So ist es wie bereits angesprochen der Leopold-Amor, der den Herrn davor bewahrt, sein Leben mit einem Seit-Schluß zu beenden.

Der dritte Akt – Heute. Das Schaufenster proklamiert den Ausverkauf, davor singt ein Bettler, begleitet von einem Kofferradio, die Arie des Tenors in der Hoffnung auf etwas Kleingeld. Ausverkauf der Waren, Ausverkauf der Kunst, Ausverkauf des Menschen. Ochs trifft sich mit einer Prostituierten (der als Mariandl verkleidete Octavian, nochmals „verkleidet“), er ist sichtlich gealtert. In der nächtlichen Halle des Kaufhauses ereilt ihn unter den Augen der Schaufensterpuppenzombies sein Scheitern, das in dieser Inszenierung als Impotenz, letztlich als Sterben formuliert wird.

Auch Faninal und die Fürstin sind alt geworden, Vertreter einer vergangenen Zeit. Die große Uhr wurde durch ein digitales Exemplar ersetzt. Rosen gibt es für 99 Cent vom Grabbeltisch, Ramschware. Aber das junge Paar macht Hoffnung, den Zwang des Geldes durch ihre Liebe durchbrochen zu haben. Die Feldmarschallin hingegen bleibt sich treu und verschwindet mit dem „Mohren“ in der Umkleide, nicht ohne ihn dafür zu bezahlen, natürlich. Nachdem Faninal den letzten Aktenordner gepackt hat, das Licht gelöscht wurde und die Uhr längst aufgehört hat, eine Zeit vorzugeben, erobern am Ende spielende Kinder die abgesperrte Konsumhalle. Die Boten einer neuen, besseren Zeit? – keine Sorge, der geflügelte Freund mit dem Stundenglas kümmert sich auch um die jüngste Generation.

Dies alles ist nur eine grobe Zusammenfassung dessen, was die Regie an diesem überwältigenden Abend für den Zuschauer bereithält. Viele Feinheiten und Andeutungen habe ich dabei sicher unterschlagen, aber diese Inszenierung schreit ohnehin danach, mehr als einmal bestaunt, ach was, durchlebt zu werden. Höchste Theaterkunst in Bremen.

Und als wäre das allein noch nicht genug, steht die musikalische Umsetzung der szenischen in nichts nach. Die Besetzung stimmlich wie darstellerisch von erster Güte, die Marschallin wunderbar warm und innig, Octavian voller Leidenschaft, Sophie mit der gebotenen Zartheit, Ochs einzig in der Höhe etwas dünn. Selbst eine kleine Rolle wie der Notar ist erstaunlich stark besetzt. Und dann erst Poschner und sein Orchester – eine Wonne. Den Mann zähle ich weiterhin zu den energiereichsten Vertretern seiner Zunft. Gleich zu Beginn mit recht flottem Tempo, aber immer mit sensiblem Gespür für die Balance zwischen Druck und Innigkeit. Direkt in den ersten Takten erzeugt das Orchester ein unerhörtes Flirren, einen Farbenüberschwang, der ein Versprechen für den Abend abgibt, das im himmlischen Terzett den Triumph seiner stetig strömenden Einlösung feiert. Sicher, zum Teil führt Poschner den Klangkörper an seine Grenzen und darüber hinaus, darin liegt jedoch kein Mangel, sondern der Kern seiner Strahlkraft.

Warum wird so etwas nicht mitgeschnitten? Wo bleibt die DVD? Fest steht: die Inszenierung scheint kein Renner zu sein, viele Plätze bleiben leer, nach jeder Pause kommen noch ein paar hochgeklappte Polster hinzu. Was soll ich sagen? Wer nicht will, der hat schon. Wär nur schade, wenn solch ambitionierte Produktionen dem Diktat der Gleichmut zum Opfer fielen. Schade für Bremen, schade für das Haus und natürlich auch schade für Spinner wie mich.


Richard Strauss – Der Rosenkavalier
Musikalische Leitung – Markus Poschner
Inszenierung – Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme – Rainer Sellmaier
Licht – Christian Kemmetmüller
Chor und Kinderchor – Daniel Mayr
Dramaturgie – Hans-Georg Wegner

Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg – Kelly Cae Hogan
Der Baron Ochs auf Lerchenau – Rúni Brattaberg
Octavian, genannt Quinquin, ein junger Herr – Nadja Stefanoff
Herr von Faninal, ein reicher Neugeadelter – Martin Kronthaler
Sophie, seine Tochter – Alexandra Scherrmann
Jungfer Marianne Leitmetzerin – Nadine Lehner
Valzacchi, ein Intrigant – Christian-Andreas Engelhardt
Annina, seine Begleiterin – Barbara Buffy
Ein Polizeikommissar – Christoph Heinrich
Der Haushofmeister bei der Marschallin – Bert Coumans
Der Haushofmeister bei Faninal – Kejia Xiong
Ein Notar – Daniel Wynarski
Ein Sänger – Randall Bills
Drei adlige Waisen – Lusine Ghazaryan, Martina Parkes, Astrid Kunert
Eine Modistin – Anne-Kathrin Auch
Ein Tierhändler – Robert Lichtenberger
Vier Lakaien der Feldmarschallin – Sangmin Jeon, Can Tufan, Wolfgang von Borries, Allan Parkes
Vier Kellner – Achim Rikus, Zoltán Melkovics, Johannes Scheffler, Daniel Wynarski
Ein Hausknecht – Daniel Ratchev
Mohammed – Michael Davies
Amor – Leander Dewan

Der Chor des Theater Bremen
Statisterie des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker