30. April 2016

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny –
Thorsten Schmid-Kapfenburg. Theater Münster.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 129


Man kann es mir auch partout nicht recht machen. Da lamentiere ich gern darüber, man möge doch rare Perlen der Musiktheatergeschichte nicht bei Ihrem gegenwärtigen Auftreten mit allzu überambitionierten, um nicht zu sagen sinnentstellenden Inszenierungskonzepten befrachten, um die Schönheit des Werkes an sich nicht unnötig zu verschleiern und den scheuen Opernbesucher von heute nicht von der naturgemäß selten durch ihn aufgesuchten Lichtung des Unbekannten gleich wieder fahrlässig zu verscheuchen. Und dann wohne ich in Münster einer Umsetzung eines meiner Leib- und Magen-Stücke bei, welche sich die größte Mühe gibt, den Inhalt möglichst verständlich zu vermitteln – und bin maßlos enttäuscht. 

Ja was denn nun, ja wie denn nun? Herrn Peters und seinem Team ist auf dem Papier eigentlich nichts vorzuwerfen, da sie eine Inszenierung abliefern, in der die Handlung sehr nah an den Gegebenheiten des Librettos umgesetzt und auch für den Mahagonny-Neuling in jeder Hinsicht fasslich und direkt präsentiert wird. Für meine Begriffe leider eine ganze Ecke zu direkt.

Womit wir bei meinem Hauptkritikpunkt wären: Die vorgenommene Überbauung des Orchestergrabens mit einer bis an die Zuschauerreihen reichenden Bühnenfläche ist gemäß einer unterstellten Absicht, die Akteure möglichst nah an das Publikum zu bringen, um jenes mehr zu involvieren und wahrscheinlich auch die Textverständlichkeit zu verbessern, durchaus in der Theorie löblich, die damit verbundene Verbannung des Orchesters in die verschleierten Tiefen des Bühnenhintergrundes sollte sich jedoch als unentschuldbar zerstörerisch für die akustische, letztlich wirkungsbezogene Integrität des ganzen Stückes erweisen. In der Einführung wurde ironischerweise nicht ohne Grund darauf hingewiesen, daß Mahagonny – im Gegensatz zur Dreigroschenoper – die Gattungsbezeichnung zur Gänze ausfüllt, hier und heute wähnte ich mich allerdings weniger in einer Oper, als daß die Aufführung eher etwas von Schauspiel mit musikalischer Untermalung hatte.

Über den entstellten Gesamteindruck hinaus ergaben sich durch diesen Eingriff weitere Schwierigkeiten. So bekamen insbesondere die kräftigeren Stimmen durch die häufige Rampensteheherei in unmittelbarer Parkettnähe einen unangenehm lauten, direkten Klang, der sich zum Beispiel beim Sänger des Jim immer dann wohltuend relativierte, wenn er mehr aus der Tiefe heraus agieren durfte – der Schall konnte sich entfalten, die Stimme wirkte nicht weniger präsent aber um Längen kultivierter. In Ensemble- und Chorszenen potenzierte sich dieses Problem, das darüber hinaus selbst die üblicherweise beeindruckendsten Orchestertutti überdeckte, so daß auch diese reichhaltigen Momente der Partitur unwirklich nackt erschienen. Um die Reihe musikalischer Unwägbarkeiten zu komplettieren, sollte sich die Positionierung des Dirigenten mit dem Rücken zum Bühnenvolk ebenfalls als keine gute Idee erweisen. Davon zeugten eine wahre Fülle verpasster oder vorgezogener Einsätze der Sänger, sowie Unstimmigkeiten zwischen einzelnen Chorteilen, wogegen ohrenkundig auch die zum Ausgleich angebrachten Bildschirme nicht viel auszurichten vermochten. Sehr, sehr schade.

Abgesehen davon, daß heute also der Musik Kurt Weills mit den baulichen Maßnahmen kein Gefallen getan wurde, konnte auch die dadurch inhaltlich wie buchstäblich in den Vordergrund gehobene Regiearbeit leider nicht überzeugen. Ohne jegliche Überraschung, zu harmlos verlief das Ganze, mehr seichte Gangsterklamotte mit Stummfilm-Humor als bissige Auseinandersetzung mit den (An-)Trieben des Menschen und schmerzliche Anklage seiner selbstzerstörerischen Natur. Das Stück kann und soll auch Spaß machen, das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber wenn es gut und vor allem intelligent gemacht wird, darf einem das Lachen durchaus das ein oder andere Mal im Halse stecken bleiben. In dieser Inszenierung wird selbst auf der Bühne fleißig mitgelacht, die gute Laune überträgt sich auf das Publikum, weh tut hier wenig, ob Fresstot oder Pseudokreuzigung, so richtig tief geht das alles nicht. Daran ändert man auch nichts, wenn man in den letzten Minuten der Oper dann doch noch das Kommentieren anfängt, und Bill als Hitler im Ledermantel vor seinem Aufstieg als Reichskanzler die Zeilen über besagten „Toten Mann“, dem man „nicht helfen“ könne, zum Abgesang auf die Weimarer Republik umformt. Kann man machen, kommt aber in dieser ansonsten gänzlich unpolitischen Produktion ziemlich unvermittelt, eher gar unmotiviert.

Über die musikalische Güte von Ensemble und Orchester möchte ich angesichts all dieser Widrigkeiten bei meinem ersten Besuch des Hauses nicht abschließend urteilen. Zu losgelöst deklamatorisch, überspitzt theaterhaft das Auftreten der Sänger, hingegen nur rudimentär wahrnehmbar das Sinfonieorchester Münster. Wobei das Wenige, das den Weg aus dem Orchesterversteck zum Gehör fand, nicht gerade überzeugte, ein eher unauffälliges Dirigat tat sein übriges. Aber all das gilt es bei einem Folgebesuch einer anderen Produktion zu überprüfen, in der Musiker und Kapellmeister auf den für sie vorgesehenen Plätzen zeigen dürfen, was in ihnen steckt.

Fazit: Zuviel Brecht und zu wenig Weill lassen ein Mahagonny ohne Fallhöhe in belanglose Einzelteile verpuffen. Dem Publikum hat es trotzdem gefallen.


Kurt Weill – Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Musikalische Leitung – Thorsten Schmid-Kapfenburg
Inszenierung – Ulrich Peters
Bühnenbild – Thomas Dörfler
Kostüme – Michael D. Zimmermann
Choreinstudierung – Inna Batyuk
Dramaturgie – Susanne Bieler

Leokadja Begbick – Suzanne McLeod
Fatty, der Prokurist – Boris Leisenheimer
Dreieinigkeitsmoses – Gregor Dalal
Jenny Hill – Henrike Jacob
Jim Mahoney – Wolfgang Schwaninger
Jack O’Brien – Youn-Seong Shim
Bill, genannt Sparbüchsenbill – Birger Radde
Joe, genannt Alaskawolfjoe – Plamen Hidjov
Tobby Higgins – Jaean Koo
Sprecher – Oliver Bode

Opernchor des Theaters Münster
Extrachor des Theaters Münster
Sinfonieorchester Münster

25. April 2016

Les Siècles – François-Xavier Roth.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Igor Strawinsky – L’oiseau de feu (Der Feuervogel)

(Pause)

Maurice Ravel – Daphnis et Chloé
(EuropaChorAkademie)



Welch debiles Drecks-Pack bekommt es eigentlich einfach nicht geschissen, sein gottverdammtes Mobilfunk-Tamagotchi mal für die Dauer eines Konzertes auszustellen? Der ignorante Urschleim der Jugend? Oder die resonanzimprägnierte Senilität des Alters? Oder doch Leute wie Du und ich? Subjekte, die man im Alltag besehen durchaus als Menschen durchgehen lassen würde? Ich weiß es nicht und es könnte mir auch egal sein, solange die Identifizierung des- oder derjenigen, welche/r mir in die Balz des Prinzessinengarten-umtriebigen Prinzen hineinklingelt, nicht an eine umgehende Exekution, zumindest aber ein Hausverbot auf Lebenszeit geknüpft ist. Ein Jammer!

Jämmerlich auch die Konzert-Existenz jener obligatorischen, gymnasialen Pflichthocker, in schlecht sitzende Jacketts gezwängte Erwachsenen-Karikaturen oder, auf den letzten Drücker orientierungslos die Reihen durchpflügend, den Odor von Schweiß und regennasser Funktionskleidung verströmend, durch die bloße Anwesenheit ihrer gelangweilten Hüllen jegliche konzentrierte Atmosphäre mit zur Schau gestellter Unmusikalität verseuchend. Die Klassik braucht die Jugend? Die Jugendlichen von heute sind die Konzertgänger von morgen? Mag sein (wer’s glaubt, wird selig), aber dann sollen sie bitte auch erst morgen kommen und nicht heute, wenn ich meinem Abo zu frönen gedenke.

Dabei ist natürlich nicht auszuschließen, bei Lichte betrachtet womöglich gar ein an Sicherheit grenzendes Ding der Wahrscheinlichkeit, daß sich gerade hinter besagten tumben aber unverbrauchten Schläfen unbemerkt durchaus eher Szenen der Anteilnahme, wenn nicht gar ursprünglicher Begeisterung abgespielt haben mögen, als in manch abgestumpftem Abosesselfurzerhirn. Unter uns gesagt, möchte ich mich gerade ein wenig auf Krampf in Rage reden, gerade weil das Konzert leider nicht den erhofften Kitzel erbracht hat. Die Pennäler saßen recht brav auf ihren Plätzen, ja selbst das idiotische Klingeln hat in mir nicht den üblichen Weltenbrand-Hass heraufbeschworen, wie er an solch einer delikaten Stelle im musikalischen Verlauf eigentlich ein Zeichen von geistiger und seelischer Gesundheit gewesen wäre.

Was war los? Letzten Endes zu wenig, um aus einem Konzert mit den besten Vorzeichen einen außergewöhnlichen Abend zu machen. Oder um den Kern der Laudatio jener sich an die Darbietung anschließenden Vergabe des Preises der Deutschen Schallplattenkritik aufzugreifen: Das besondere Verdienst dieses Orchesters und seines Leiters, die Werke auf dem jeweils zu ihrer Entstehungszeit gebräuchlichen Instrumentarium zu präsentieren, verfehlte bei mir leider seine beabsichtigte Wirkung. Oder anders gesagt: ich fühlte mich weniger in das Paris Anfang des 20. Jahrhunderts versetzt, sondern lauschte im Hier und Jetzt einem sehr guten Orchester, dessen Gesamteindruck durch technische und klangliche Unzulänglichkeiten in manchen Instrumentengruppen deutlich geschmälert wurde.

Insbesondere das Blech zeigte sich in meinen Ohren nicht, wie Herr Mischke vom Abendblatt (bezogen auf die Sacre-Einspielung) ausführte, von archaischer oder strahlender Qualität, sondern – so hart das klingen mag – einfach von minderer. Die Musiker haben meinen Respekt, dieses, zumindest in der Theorie, äußerst interessante und vielversprechende Konzept der Instrumentenschau der Jahrhunderte zu ihrer Aufgabe gemacht zu haben; als gestriges Ergebnis bleibt bei mir nur schlicht die Freude über den technischen Fortschritt im Instrumentenbau hängen und ein wenig das Bedauern, mit welchem Material sich Strawinsky und Ravel offenbar haben herumschlagen müssen. Man kann mir nicht erzählen, daß gerade diese Klangfarben- und Effektforscher sowie Fetischisten des Delikaten bei all den Kieksern, versemmelten Soli und schmalbrüstigem, farblosem Forte der Blechbläser vor Begeisterung aus dem Häuschen gewesen wären.

Das ist doppelt bedauerlich, weil Roth mit seinen Musikern so eine Art Kampf gegen Windmühlen auszufechten schienen, bei dem eine durch und durch auf Feinheit und Transparenz ausgelegte Lesart sich an den Gegebenheiten des Materials abarbeitete. Natürlich gab es gestern zuhauf bemerkenswerte, ja zauberhafte Momente. In der Regel, wenn das duftige Gespinst der Partituren in liebevoller Detailarbeit plastisch erlebbar gemacht wurde. Trotzdem kann ich nicht behaupten, daß diese Kombination den Werken als Ganzes einen bereichernden Dienst erwiesen hätte. Die Streicher nicht (Intensität), das Holz nicht (Nuancen), das Blech schon gar nicht.

Zumal zumindest dem Feuervogel, der mir im Unterschied zum Ravel-Ballett äußerst vertraut ist, an den entsprechenden Stellen für meinen Geschmack ruhig etwas mehr Kante und Aggressivität gut zu Gesicht gestanden hätte. So geriet mir das bei aller duftigen Finesse doch teilweise eine Spur konturlos. Zu Daphnis et Chloé kann ich nicht viel sagen, außer daß mich hier eine durchgehende Tendenz zum Lärmen etwas irritierte. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, die dynamischen Spitzen latent mit dem Holzhammer präsentiert zu bekommen. Vom Stück selbst ist mir nicht viel hängen geblieben, obwohl es der ersten Gesamtdurchsicht nach auf jeden Fall mehr Bemerkenswertes beinhaltet, als den gern mal aus dem Radio funkelnden Sonnenaufgang.

Fazit: Herr Roth hat ganz recht in seiner kurzen Replik auf die Laudatio, wenn er sein Orchester nicht als Museum verstanden haben möchte – dann muss es sich allerdings auch gefallen lassen, in puncto Klangqualität und Wirkung an anderen Spitzenorchestern gemessen zu werden. Und da hat es heute leider den Kürzeren gezogen.

23. April 2016

Der goldene Hahn – Axel Kober. Oper Düsseldorf.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, 1. Rang Seite links, Reihe 1, Platz 216



Eine richtig gute Oper trifft auf eine richtig gute Inszenierung – nicht die schlechteste Konstellation, die hier in Düsseldorf zu bewundern war. Schon in Saarbrücken hatte mich der goldene Hahn aufhorchen lassen (Link), dieser positive Eindruck sollte sich nun bestätigen. Ein Werk, das durchgängig mit musikalischen Schönheiten aufwartet und gleichzeitig mit seiner in Satire getränkten Handlung eine ergiebige Spielwiese für hintergründige Regiearbeiten bietet.

Anders als in der eher allgemein als Kroteske über (macht-)politische Unfähigkeit angelegten Saarbrücker Produktion, verknüpft Dmitry Bertman das Libretto ganz konkret mit der jüngeren russischen Geschichte und spannt den Bogen von (Post-)Sowjetzeiten bis in die Gegenwart. Entsprechend befinden wir uns eingangs auch nicht an einem märchenhaften oder historischen Zarenhof, sondern erleben eine von Vetternwirtschaft und Filz durchsetzte autokratische Regierung in der Rolle der verkrusteten, sich äußeren „Gefahren“ ausgesetzt wähnenden Dodonie.

Spannend an dieser Inszenierung ist dabei, dass die äußeren Feinde bzw. die Sphäre der Königin von Schemacha nicht etwa orientalisch-magischen oder übersinnlichen Ursprungs sind, sondern als Bild für die Verlockungen des Westens, letztlich des Kapitalismus, fungieren. Wobei es durchaus um Exotik und vor allem auch Sinnlichkeit im Sinne der im Libretto angelegten Verführung geht, nur daß sich Glanz und Erotik in einem Pariser Nachtclub entfalten und Dodon sowie seine Mannen ganz weltlichen Reizen erliegen. Dieser Kunstgriff ist zweifach intelligent, da er neben der handlungsobligatorischen Gegenwelt zu Dodons Reich mit der Pariser Verortung die Faszination der russischen Eliten zu Rimski-Korsakows Zeiten an der französischen Kunstmetropole geschickt in Erinnerung ruft. Der von der Regie polylingual (französisch, englisch, deutsch, russisch) umformte Einstieg dieser Szene ist ein weiter Hinweis auf diesen kulturellen Transfer.

Doch in dieser Inszenierung wird nicht allein fantasiert und geträumt, es wird ganz konkret genossen, konsumiert, adaptiert. Drogenrausch, Sexrausch, Kaufrausch. Aus grauen Traditionalisten werden eifrige Assimilanten in „formalistischen“ Anzügen, die die Errungenschaften der westlichen Verbrauchsgesellschaft in die russische Heimat bringen. Eine Heimat, in der sich in Abwesenheit des Herrschers das Machtvakuum mit persönlich motiviertem Egoismus (Amelfa verleibt sich den goldenen Hahn ein), schließlich mit der Enttäuschung des einfachen Volkes füllt, das, mit leeren Käfigen bzw. Händen dastehend das alte System verklärt und eines neuen/alten Zares harrt. Dodon der Wiedergänger? Ein Schelm, wem da Assoziationen zu aktuellen Potentaten kommen, die an „alter Größe“ feilen.

Musikalisch ist der Abend ein Ruhmesblatt für diese großartige, reiche Partitur und gleichermaßen für die Oper am Rhein. Die Düsseldorfer Symphoniker lassen Rimski-Korsakows farbenreich funkelnde, mal pfeilschnell wirbelnde, mal opulent schwelgende Musik in voller Pracht und Raffinesse erstehen, geleitet vom nuancierten Dirigat seines Generalmusikdirektors. Sicher keine leichte Aufgabe, entlarvt die feine Faktur dieses Werkes doch spätestens in den suggestiv-berauschenden Schemacha-Klängen jeden Versuch, mangelnde Subtilität etwa durch Übereifer oder energische Härte kaschieren zu wollen. Glücklicherweise kann Herr Kober gerade hier mit seinem Orchester aus dem Vollen schöpfen und lässt wahrlich Zauberhaftes dem Graben entströmen.

Aber auch von der Bühne her wird das Ohr verwöhnt, allen voran durch die betörend sinnlichen Koloraturen der buchstäblichen Königin des Abends, Antonina Vesenina. Stimmlich wie darstellerisch ist sie eine Idealbesetzung für die rätselhafte Erscheinung der letztlich unwiderstehlichen Sirene, da sie die ganze Klaviatur der von ihr bei Dodon angewendeten Strategien – von laszivem Vampmodus über strenge Domina bis hin zu gespielt naiver Mitleidstour – ebenso klangschön wie ausdrucksstark mit Leben füllt. Interessant dabei auch, daß sich der umgarnte Herrscher bei all dieser Reizüberflutung am Ende durch einen Apell an den männlichen Beschützerinstinkt abschließend einwickeln läßt. Umso köstlicher, wie das tradierte Rollenverhältnis dann mit der Zweckentfremdung der mitgebrachten Gastgeschenke für die potenzielle Herzdame durch eben jene auch inszenatorisch auf den Kopf gestellt wird: Die Königin kleidet Dodon selbst mit den offenbar für sie bestimmten häuslichen Insignien, Kopftuch und Schürze, ein und lässt den starken Mann als Mütterchen nach ihrer Pfeife tanzen.

Es macht Spaß, Boris Statsenko in der Rolle des überforderten Staatslenkers zu sehen und zu hören. Die Besetzung mit einem Bariton lässt den Charakter weniger gemütlich wirken, der hier allerdings generell auch nicht so satt und passiv angelegt ist, wie beispielsweise in der Saarbrücker Inszenierung. Dieser „Zar“ ist definitiv gefährlich, auch wenn (oder gerade weil?) es mit seinen strategischen Fähigkeiten nicht weit her ist. Gier und Machtstreben sind in ihm ungebrochen, der beunruhigend-bösartige Blick Statsenkos spricht hier Bände. Die gute Artikulation und Textverständlichkeit des Sängers ist selbst für Russisch-Unkundige spürbar, wurde mir aber auch noch mal durch meine muttersprachliche Begleitung bestätigt.

Die übrige Besetzung und der Chor komplettieren den starken musikalischen Gesamteindruck und tragen ihren Teil dazu bei, dass mir dieser Abend in bester Erinnerung bleiben wird. Ein besonderes Lob auch an die Ausstatter bzw. Kostümbildner, vor allem die prächtigen Ergebnisse für die Darsteller der zauberischen Riege, Astrologe, Hahn und Königin sowie nicht zu vergessen deren Tänzer-Entourage sind eine Augenweide.

Fazit: Die Kombination aus märchenhaft schöner Musik und gnadenlos ernüchterndem Blickwinkel der Regie macht diese Produktion zu einem Pflichttermin für Herz und Hirn.


Nikolai Rimski-Korsakow – Der Goldene Hahn
Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung – Dmitry Bertman
Bühne und Kostüme – Ene-Liis Semper
Choreografie – Edwald Smirnow
Regiemitarbeit – Ilyan Ilin
Licht – Thomas. C. Hase
Chor – Christoph Kurig
Dramaturgie – Hella Bartnig

König Dodon – Boris Statsenko
Prinz Gwidon – Corby Welch
Prinz Afron – Roman Hoza
General Polkan – Sami Luttinen
Amelfa – Renée Morloc
Astrologe – Cornel Frey
Königin von Schemacha – Antonina Vesenina
Der goldene Hahn – Monika Rydz
1. Bojar – Mamuka Manjgaladze
2. Bojar – Ortwin Rave

Tänzerinnen und Tänzer – Carmen Mar Canas Salvador, Nathalie Gehrmann, Graci Meier, Birgit Mühlram, Sergio Giannotti, Nilmar Santos

Chor der Deutschen Oper am Rhein
Statisterie der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker



3. April 2016

Hamburger Symphoniker – John Axelrod.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 12, Platz 5/6



Kurt Weill – Suite aus der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“
Aaron Copland – Konzert für Klarinette, Streicher, Harfe und Klavier
(Sebastian Manz – Klarinette)
Zugabe: George Gershwin – Walking the Dog
(Sebastian Manz – Klarinette)

(Pause)

Antonin Dvořák – Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 „Aus der neuen Welt“



Es geht durchaus auch mal ohne den Chef – das ist die Erkenntnis des heutigen, großartigen Konzertabends mit den Hamburger Symphonikern. Diesmal oblag es John Axelrod als energisch zu Werke gehendem Gast, die bewährten Vorzüge meines Hamburger Lieblingsorchesters zur Geltung zu bringen. Dem Amerikaner gelang es, Kraft seiner federnd-straffen, dabei jederzeit umsichtig-differenzierten Herangehensweise, sowohl die eher selten in Konzertgefilden anzutreffenden Stücke vor der Pause, als auch das altbekannte Dvořáksche Dickschiff frisch und mitreißend zu präsentieren.

So unumstößlich die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ zu meinen Favoriten gehört, hatte ich mir von der daraus entnommenen Suite im Vorwege doch mehr erhofft. Die unverbundene Abfolge zweifellos prägnanter, allerdings jeweils sehr knapp behandelter Episoden ermöglicht allenfalls einen schlaglichtartigen Einblick in diese großartige, reichhaltige Partitur, deren Heterogenität in solcher Darreichungsform weniger für Abwechslung, sondern eher für eine gewisse kurzatmige Zusammenhanglosigkeit sorgt. Erst die Umsetzung des Finales im letzten Satz nimmt sich die nötige Zeit, um die Energie musikalischer Entwicklung auch in Miniaturform auszuleben. Interessant aber die Bearbeitung an sich, in der die Gesangs- und damit in der Regel auch Melodiestimmen den Bläsern übertragen wurden – mit Ausnahme des Alabama-Song-Themas, welches die Violinen intonieren. Die Darbietung selbst ließ, ungeachtet der für mich gewöhnungsbedürftigen Form, keine Wünsche offen.

Das gleiche gilt für das, allerdings in jeder Hinsicht formvollendete, Klarinettenkonzert Coplands, bei dem sich zum bestens aufgelegten Klangkörper Herr Manz mit seinem überragenden Spiel gesellte. Jenes sollte gleichermaßen für den gesanglichen, nachdenklich-ruhigen Fluss des ersten, mit seinem ein wenig an Mahler erinnernden Seufzermotiv, als auch für die vertrackte, von Jazz-Elementen durchzogene Hatz des zweiten Satzes die ideale Sprache anführen. Schade, daß Coplands Werke, seine Sinfonik wie auch seine Kammermusik, hierzulande in den Programmen rar gesät sind – zählen sie für mich doch zum Schönsten, das die klassische Musik des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Die ebenso schelmisch durch den sympathischen Hannoveraner angekündigte wie umgesetzte Gershwin-Zugabe bestätigte den wahrlich aufhorchen lassenden Eindruck des Solisten.

Alles andere als gewöhnlich gestaltete Axelrod dann in der zweiten Konzerthälfte das Gewohnte. Durchweg flotte Tempi, die auch das Largo nicht der Gefahr einer schwulstigen Verkitschung aussetzten, sondern edel und erhaben zu fließen gestatteten, kamen einer erfreulich knackigen, forsch drängenden Interpretation zugute. Genau die Herangehensweise, die Dvořáks rhythmische Vitalität und melodischen Erfindungsreichtum am besten zur Geltung bringt. Süße Melodien brauchen keinen Zuckerguss, Romantik keinen Schmalz. Was nicht heißen soll, dass man das Largo nicht auch weitaus langsamer dirigieren kann – es braucht halt, wie immer, ein entsprechendes Gesamtkonzept. Die Konzeption Axelrods jedenfalls brachte diesen Klassiker regelrecht zum Strahlen. Wucht gepaart mit Präzision, ausgekostete Spannungsbögen, schließlich eine fulminante Entladung im Finale, welche buchstäblich mitriss.

Das beste Konzept am Pult trägt ohne engagierte Musiker keine Früchte. Natürlich bin ich immer wieder in freudiger Erwartung, wenn interessante Gastspiele namhafter Orchester in der Hansestadt anstehen, an Abenden wie diesen verlasse ich die Laeiszhalle allerdings in der wohligen Gewissheit, meine musikalische Versorgung durchaus auch allein mit den Hamburger Symphonikern bestreiten zu können. Was die Elbphilharmonie ab dem nächsten Jahr zu meinem Seelenheil beitragen wird, steht, bei aller Vorfreude, noch in den Sternen – auf das Residenzorchester der Laeiszhalle ist heute Verlass und wird es bleiben.