15. August 2018

Estonian Festival Orchestra – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 3



Arvo Pärt – Sinfonie Nr. 3 
Edvard Grieg – Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 16
(Khatia Buniastishvili)
Zugabe: Franz Liszt – Ungarische Rhapsodie Nr. 2 cis-Moll S 244/2

(Pause)

Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82
Zugaben:
Lepo Sumera – Spring Fly / Die Frühlingsfliege
Hugo Alfvén – Vallflickans Dans / Bergakungen / Ballett-Pantomime op. 37



Einer meiner Lieblingsdirigenten hat in seiner Heimat ein Orchester ins Leben gerufen – das klingt doch spannend. Und eines ist nach dem heutigen Konzert klar: Das 2011 von Paavo Järvi gegründete Estonian Festival Orchestra ist eine Bereicherung für jeden Saal – erst Recht die Elbphilharmonie. Man ist mit großer, wenn auch keinesfalls riesenhafter Besetzung angereist, einzig die neun Kontrabässe springen ins Auge – hat der Elphi-Kenner Järvi hier bewusst auf das Fundament Einfluss genommen oder ist das ein Zufall? Egal, die Bässe klingen jedenfalls wunderbar – wie das ganze Orchester, das von seinem Dirigenten aber auch perfekt in Szene gesetzt wird. Insbesondere die Soli lassen mit der Zunge schnalzen, egal ob Holzbläser, Horn oder Konzertmeister. Aber der Reihe nach.

Zu Arvo Pärt habe ich ein etwas gespaltenes Verhältnis. Zwar hat mich seine ebenso simple wie eingängige Komposition Fratres, eingesetzt im Film „There will be Blood“ durchaus berührt, weitere Annäherungsversuche an diesen Komponisten waren danach allerdings weniger erfolgreich. Diese Art von statischer „Stimmungsmusik“, wie ich sie in vielen seiner Werke angetroffen habe, deckt sich, gelinde gesagt, nicht exakt mit meinen Vorlieben. Derart negativ voreingenommen kam die heutige Sinfonie aus Pärts Feder nahezu einer Offenbarung gleich. Interessante Themenkomplexe, motivische Arbeit, differenzierte Instrumentation, Kontraste in Ausdruck, Dynamik und Tempo, gewaltige Steigerungen – kurz: alles, was eine Komposition erfahrenswert macht. Die vielschichtige Faktur hat mich regelrecht verblüfft, da ist viel „Altes“, antikisierend Archaisches, aber eben nicht immer nur dieses monoton Mönchische in Sack und Asche Gehen, das ich bislang mit Pärt verbunden habe. Es gibt sogar heitere Passagen – ich werd verrückt! Letzten Endes ist das vielleicht immer noch nicht so ganz meine Klangsprache, aber doch ein Quantensprung in der Beziehung zu diesem Komponisten. Woran Järvi und seine Musiker großen Anteil haben. Konzentration und Kontemplation. Allein schon das bärenstarke Blech sorgte für einen nachhaltigen Eindruck. Auch stark, wie fokussiert der Paukist seine Schläge beschleunigte, die sich schließlich nahtlos zum Paukenwirbel fügten.

Das Grieg-Konzert erklang ebenfalls in einer Top-Darbietung aller Beteiligten. Das Orchester weiterhin vorzüglich, egal ob Horn, übriges Blech oder Streicher. Und Järvi wie gewohnt: knackig, aber differenziert. Dabei zusätzlich mit teilweise extrem flottem Antritt, was wiederum mit dem Energielevel des Wirbelwindauftritts von Frau Buniastishvili korreliert. Die Dame scheint ein regelrechter Tempoholic zu sein, beinahe gerät mir mancher Lauf fast zu ungestüm, weil dann kurz das Gefühl von Hast aufblitzt. Aber wer solch einen Anschlag von zartperlend bis unerbittlich im Köcher hat, darf gern auch mal übertreiben.

Ebenfalls spannend, nicht verhehlen zu können, dass ihr Spiel (oder vielmehr ihr Auftritt insgesamt?) eine „sexy Komponente“ aufkommen ließ, die dem gefährlich vertrauten Klavierkonzert-Klassiker Griegs ungemein gut zu Gesicht stand. Bleibt die Überlegung, wie wahrscheinlich eine solche Erwähnung bei einem männlichen Kollegen oder einer weniger attraktiven Kollegin (auch Geschmackssache, klar) den Weg in meine Ausführungen gefunden hätte – Relevanz für die Rezeption der Darbietung besitzen derlei Gedanken meiner Ansicht nach jedoch in jedem Fall. Solange solch ein pianistischen Ausnahmetalent am Flügel sitzt, ist es im Umkehrschluss allerdings ebenso unstrittig, dass es von Dummheit und/oder Oberflächlichkeit zeugt, sich an der Absatzhöhe der Schuhe zu stören, welche die Pedale des Steinway so meisterhaft regulieren.

Ich könnte jetzt einen Exkurs über Yuja Wangs Bühnenoutfits, Jonas Kaufmanns Wirkung auf Frauen oder über erotische Stimmen, die unscheinbaren Körpern entfahren, einschieben, belasse es aber doch mit der Erkenntnis, das große Künstler weil/ungeachtet/unabhängig davon, dass sie in der Regel mehr als einen Sinn im Kunstliebhaber stimulieren, so oder so große Künstler bleiben.

Järvi und Sibelius – das passt zusammen. Sein Ansatz ist weniger kontemplativ, sondern bietet Sturm und Drang vom Feinsten. Besonders ohrenkundig wird das in dem wiederholt angewandten Mittel, ordentlich Schwung zu nehmen, um regelrecht soghaft rauszubeschleunigen. Das Finale des ersten Satzes gerät auf diese Weise zur wuchtigen Explosion. Aber auch Leises und Feines ist bei Järvi wie gewohnt in den besten Händen – an seiner Pianissimo-Gestaltung sollte sich das Hausorchester ein Beispiel nehmen. Die beiden Zugaben boten einerseits den exzellenten Musikern des Estonian Festival Orchestra noch einmal Gelegenheit, ihre individuelle Klasse unter Beweis zu stellen (Sumera mit vielen Solostellen) und kombinierten mit der Alfvén-Ouvertüre Virtuosität und Gefühl (Flinker Streicherbeginn versus ruhiger Mittelteil) zu einem Abschied, der ein Wiedersehen und -hören herbeisehnen lässt.