25. März 2019

Budapest Festival Orchestra – Gábor Káli.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Béla Bartók – Suite aus »Der wunderbare Mandarin« op. 19
Béla Bartók – 27 zwei- und dreistimmige Chöre mit Orchesterbegleitung Sz 103 (Auswahl)
(Cantemus Chor, Leitung – Dénes Szabó)

(Pause)

Béla Bartók – Konzert für Orchester Sz 116



Wie Herr Matuschek in der Einführung mitteilte, konnte Ivan Fischer aufgrund einer am selben Tag vollzogenen Augen-OP weder als sein Gesprächspartner noch Dirigent des Konzertes in Erscheinung treten. Das mochte man allein schon aus der Tatsache heraus bedauern, dass Herr Fischer nicht nur Gründer und Leiter des Budapest Festival Orchestra, sondern auch Urheber der Konzeption der beiden Bartok-Programme in der Elbphilharmonie ist, doch fiel die Vertretung durch Herrn Káli, seinen Assistenten, eindeutig in die Kategorie Glück im Unglück.

Gleich vom Start weg mit der ruppigen Mandarin-Suite ließ der junge Dirigent keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Orchester und mit ihm gleichermaßen die Zuhörer in den besten Händen waren. Selten gab es an dieser Stelle ein furioseres Entrée, bei dem ich spontan gar nicht entscheiden konnte, was mich mehr elektrisierte – die überlegene Technik und Klangpracht der Budapester oder das kompromisslose, unglaublich fokussierte Dirigat des Einspringers, welches seine Mitmusiker offensichtlich zu dieser Spitzenleistung animierte: Perfekte erste Violinen, fein und schneidend zugleich, generell ein Streichersound, der in Sachen Wohlklang und Intensität kaum zu toppen sein dürfte. Schroffe Klarinetten von geradezu dämonischem Ausdruck, welche im nächsten Moment von einer butterweichen Oboe abgelöst werden. Ein bärenstarkes Blech.

Und bei all dem immer wieder diese beeindruckende Mischung aus Explosivität und Kontrolle in der Lesart: perkussiv, aggressivst, mit idealem Timing – was bei diesem Stück trotz (oder wegen) seines expressiven Charakters beileibe keine Selbstverständlichkeit ist. Das Schlimmste, was man machen könnte, wäre, die Krassheiten der Partitur zu mildern, den selbst ohne Tänzer allgegenwärtigen Sog der Rhythmik zu bremsen. Gábor Káli jedoch geht glücklicherweise aufs Ganze. Auch was die dynamischen Spitzen angeht – brutale Lautstärke, aber druckvoll, nicht lärmig. Herr Lieben-Seutter hat in seiner kurzen Ansprache nicht zuviel versprochen. Seine ebenfalls darin enthaltene Mahnung zu akustikverträglichem Benehmen fruchtete übrigens hörbar: eine der leiseste, konzentrierteste Besucherschaft seit langem.

Mit den auf das musikalische Massaker folgenden Chorstücken nimmt das Konzert dann eine für mich unerwartete Kontrast-Wende. Junge Damen in Tracht, die sich inmitten der Orchestermusiker auf der Bühne verteilen, und zuerst a capella unter der Leitung des ebenfalls traditionell gekleideten Dénes Szabó, später vom Orchester begleitet die Elbphilharmonie mit ihrem berührenden Vortrag in andächtiges Staunen versetzen. Akustisch ist das eine Offenbarung, so zart und nuanciert blüht ihr Gesang aus der Stille heraus auf. Die Volksweisen selbst mögen relativ einfach und schlicht sein, doch sind insbesondere die ruhigen, melancholisch gefärbten Stücke harmonisch sehr fesselnd. Kein Wunder, warum der Jäger und Sammler Bartok so fasziniert von dieser ursprünglichen Musik gewesen ist.

Nach der Pause zündet die nächste, für heute letzte, Stufe der programmatischen Kontrast-Konzeption. Das wohl bekannteste große Orchesterwerk Bartoks, Ausdruck höchster kompositorischer Meisterschaft im Dienste komplexer Formen. Beim Konzert für Orchester bleibt Gábor Káli seiner Linie treu – Spannung ist auch hier das Zauberwort. Kontraste in Dynamik und Ausdruck – der dritte Satz beginnt beispielsweise regelrecht beschwingt – dazu dieses herrliche Orchester. Vor allem den Violinen werde ich noch eine ganze Weile nachsinnen. Sicher, niemand ist perfekt, so war es der Hörnereinsatz im zweiten Satz gleichsam nicht, aber wen kümmert das, wenn dieselben Hörner generell so seidig und rund klingen.

Noch ein Wort zu Bartok. Es ist keine neue Erkenntnis, dass mir andere Komponisten des 20. Jahrhunderts deutlich näher stehen als der Ungar. Während mich nahezu jeder Takt aus dem Oeuvre Brittens und Schostakowitschs direkt anspricht, besteht bei Bartok selbst im Erleben seiner größten Werke eine allgegenwärtige Distanz. Das Konzert für Orchester ist ohne Frage genial und ich durchlebe mit Freude und Hochachtung seine Vorzüge: Die subtile Instrumentation, die Vielzahl der Eingebungen und ihre Verarbeitung, die ganze Konzeption einer originären Sinfonik mit den Errungenschaften der Moderne, ohne die tonale Traditionslinie dabei zu kappen. Mein „Problem“ ergibt sich schlicht und einfach aus der persönlichen Sprache, mit der Bartok all dies erreicht – weil sie nicht zu mir spricht. Es ist schon bezeichnend, dass mir das Konzert für Orchester an eben jenen Stellen besonders gefällt, die eine gewisse Nähe zu Hindemith aufweisen. Trautes Vokabular.

Dabei scheint es keine Rolle zu spielen ob ich dem „Programm-Musiker“ oder dem „absoluten Musiker“ Bartok begegne (ja, die Unterscheidung ist generell betrachtet ohnehin Mumpitz). So naheliegend die Bezüge zwischen den beiden extremen Ballett-Partituren des Mandarin und des Sacre sein mögen, so ungleich leichter gewinnt der „Technokrat“ Strawinsky mein Herz. Das hat keinesfalls etwas mit dem Zugang selbst zu tun – die Konzeption des Mandarin ist glasklar. Vielleicht könnte mir ein Musikwissenschaftler erklären, was da genau vor sich geht. Ist es die Melodik? Die Harmonik? Die Orchesterbehandlung kann es wie gesagt nicht sein. Wie dem auch sei. Fakt bleibt, dass für mich etwa bei Schostakowitsch die musikalische Faktur untrennbar an eine (persönliche) emotionale Agenda geknüpft ist, während ich bei Bartok oft „nur“ Musik höre – brillante Musik – aber eben „nur“ Musik. Ich würde mich gern einmal mit jemandem unterhalten, der Bartok nicht nur schätzt, sondern wirklich liebt. Das könnte spannend werden.