6. Juni 2024

Saint François d’Assise – Kent Nagano.
Elbphilharmonie Hamburg.

17:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 1, Platz 6



Wenn die Hütte morgen abbrennt, würde ich sagen: „sehr, sehr, schade – aber ich habe gestern Abend in der Elphi alles erlebt, was in einem Konzertsaal möglich ist.“ Ein unbeschreibliches Gefühl. So unbeschreiblich, dass eine lose Aneinanderreihung von Stichpunkten und Gedankenfetzen reichen muss, die Eindrücke zu dokumentieren.

1. Bild „Ich fürchte mich auf dem Weg“ – Duschbus („Wenn wir schmutzig sind“)

2. Bild – Die Schöpfung bewahren – Klimaforscher, Uni, Büro, Wald in Farbe – der Holzscheit, Mastercut zum verbrannten Wald, wieder in Schwarzweiß.

3. Bild – Den Notleidenden retten – Sea Watch (bei aller Kritik/Diskussion ein passendes Bild – bedingungslose Hilfe. Lepra-Tenor mit hoher Intensität, passend zur Verzweiflung, Zerknirschung im Orchester. Auch dann die Wandlung zur Buße ins absolut Lyrische. Schattenriss-Chor mit Zeitlupen-Jubel ebenfalls durchaus wirkungsvoll – nicht zu viel und nicht zu wenig. Das Mädchen im Regencape mit dem erleuchteten Erdenball – Tanz der Freude über die Rettung. Einfach, aber stimmig.

Ansatz für Agnostiker: Das Wort „Gott“ durch „(reine/bedingungslose) Liebe“ ersetzen.

Musikalisch eine Wonne, das Orchester topp, sehr ruhiger Saal, Konzentration (!?), Nagano einfühlsam, selbst beim Weltgetümmel des ersten Satzes. Bariton mit erlesener Stimme, vielleicht nicht die Intensität eines Kränzle, (doch daher kommt ihm das quasi Konzertante zugute), aber dann spätestens zum Ende des dritten Bildes bei der Lobpreisung Gottes einfach nur anmutig, schön, rein. Der Engel mit unglaublicher stimmlicher Intensität und Präsenz, auch im Zusammenspiel mit dem Zarthauch des Orchesters.

Wahnsinnsklangfarben, z.B. Dialog Ondes Martenot und Kontrafagott (3. Bild?). Die vollkommene Freude kündigt sich früh an – vgl. Opernwerkstatt.

Die Filme: Menschen auf ihrem Weg begleiten (Folgende Kamera u.a.)

4. Bild – Der Alltag (die Routine) ist gefährlich für den Kern, die Mission. Der überarbeitete Mönch will vom Engel nicht gestört werden. Assisi-Nippes. Das „falsche“ Klopfen – köstlicher, geistreicher (sic!) Humor von Messiaen. Fast ein kindliches Bild. Prohaska überirdisch.

5. Bild – Die Musik als Brücke zu Gott – da rennt er natürlich bei mir offene Türen ein. „Andere“ Künstleropern, Mathis der Maler, Palestrina, kommen in den Sinn. Film: Künstler/Musiker. Die Vervielfältigung des Engels, flirrendes Licht, die Stimme/Musik aus dem Himmel. Ein Engel kollabiert beim Himmelskonzert – man möchte fast an den Fingerzeig des Allverbindenden glauben.

6. Bild – Naturschauspiel. Lichtinszenierung: Die Sonne, die durchs Blätterdach scheint. Filmisch die schwächste Lösung – der in der Natur lustwandelnde Sänger/Franziskus. Etwas zu austauschbar für den spezifischen Gehalt der Ornithologie. Bei der Predigt bleibt die Zeit stehen – der im Flug eingefrorene Vogel. Aber auch hier gute Details: Die Botschaft in die Welt tragen – der Vogel ganz oben im Flug. Insgesamt definitiv stimmig, nur nicht so zwingend wie der Rest, evtl. durch das Problem, die persönliche Naturerfahrung nie wirklich in Bildern übertragen zu können – oder etwa doch? Vgl. Koyaanisqatsi u.a.?

2. Akt insgesamt gesehen schon sehr fordernd, kolossal – aber es geht sich auf! Wahnsinn.

In den Pausen probt das kleine Mädchen/Kind seine Wege mit Anleitung. Hinter mir Blech am Handgelenk und Tritte in die Lehne. Was soll´s – nicht alle hören halt die englische Musik …

7. Bild – Auf diese Heftigkeit war ich nicht vorbereitet. Hospiz. Der Alltag der Pflegerin, das Bett wird leer (zu welcher Textstelle genau?), Bilder, die Trost spenden sollen – was ist Kunst, was ist Kitsch? Gibt es letzteren in dieser Situation überhaupt? Das Anzünden der Kerze. Abschied, unerträgliche Gefühle, gewaltigste Musik, Schmerzen, Leid, die Sehnsucht nach Erlösung, die Hoffnung (auf Gott, die Auferstehung …) Fenster, Türen einen Spalt geöffnet.

8. Bild – der Engel aus höchster Höhe. Der Begleiter zu Gott, zum Ursprung. Es werde Licht. Die wahre Freude klingt C Dur. Das Kind läuft zu den Sternen.

Lippensynchrone Protagonisten, am Ende sind sie alle bei Franziskus.

„Wir müssen ja noch nicht unter der Brücke schlafen“ – einer der vielen, typisch flapsig-lakonischen Sprüche meiner anfangs des Jahres verstorbenen Mutter. Und auf dem Heimweg komme ich dann an jenen Obdachlosen unter der Brücke vorbei, nach diesem Werk, mit diesem Inhalt. In der S-Bahn dann zwei Bettler. Und was mache ich – nichts, wie immer. Haben Franziskus und Messiaen versagt? Oder nur ich? Oder doch alle?

Wiederkehrende Motive, Dreierteilung – drei Akte, oft drei Wiederholungen/Variationen. Noch nie hat mich ein so komplexes Werk derart nach dem ersten kompletten Anhören angefasst/berührt. Es rast in meinem Kopf und Herzen.

In der Pause treffe ich Herrn Delnon. Hab mich bedankt. Sein Kommentar zur Produktion: „Das macht man nur einmal.“


Olivier Messiaen
Saint François d’Assise / Oper in drei Akten und acht Bildern
in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Audi Jugendchorakademie
LauschWerk

Jacques Imbrailo – Saint François
Anna Prohaska – L’Ange
Anthony Gregory – Le Lépreux
Kartal Karagedik – Frère Léon
Dovlet Nurgeldiyev – Frère Massée
Andrew Dickinson – Frère Élie
David Minseok Kang – Frère Bernard
Florian Eggers – Frère Sylvestre
Niklas Mallmann – Frère Ruffin

Dirigent – Kent Nagano
Szenische Einrichtung – Georges Delnon
Thomas Jürgens – Szenografie
Julia Mottl – Kostüme
Janina Zell, Ralf Waldschmidt – Dramaturgie
Marcus Richardt – Film
Stefan Bolliger – Licht
Martin Steidler – Einstudierung Chor