15:00 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 50
Munteres Treiben in Düsseldorf. Gestern Eurovision Song Contest, heute CSD. Manga-Mädchen und blasse Burschen in der Stadt. Oder ist das noch eine andere Veranstaltung? Ein Ausflug des Hello Kitty Betriebsrates? In jedem Fall braucht es Perücken und Glöckchen – wozu auch immer.
Auch diese Produktion untermauert meine Vermutung, daß die Oper am Rhein, zumindest ihr Düsseldorfer Seitenarm, zu den ersten Häusern des Landes gezählt werden muß. Gäste und Ensemblemitglieder von erlesener Güte, ein wunderbares Orchester, eine starke Inszenierung. Zudem klingt die Scheune wirklich gut, die Sänger kommen problemlos über den Graben. Es wäre traurig, wenn diese Institution durch Einsparungen Schaden nähme – der obligate Appell an die Opernehe und -Ehre fehlte auch heute nicht.
Zwar entließ mich die Darbietung nicht wie gestern komplett von den Socken, mit den Einzelfaktoren hatte dies jedoch nichts zu tun. Vielleicht hätte das Dirigat hier und da etwas spritziger, virtuoser ausfallen können, aber dann hat es sich auch schon mit derlei „objektiven“ Verbesserungsvorschlägen. In Greifswald hatte das Werk über die Maßen Wirkung bei mir gezeigt, ein Ergebnis, das sich angesichts meines eher zwiespältigen Verhältnisses zu Strawinsky nicht zur Selbstverständlichkeit entwickeln muß. Nach Greifswald war ich der festen Überzeugung, das Werk inhaliert und ins Herz geschlossen zu haben, heute konnte ich dies Gefühl nur bedingt wiederbeleben. Nun ja, die nächste Gelegenheit zur emotionalen Überprüfung wird sicher kommen, wahrscheinlich in einigen Monaten an der Lindenoper.
Ja der Strawinsky. Für Feuervogel und Sacre geliebt, für Kopfgeburten à la Apollon Musagète begähnt, für seine Britten-Anfeindungen belächelt. Kaum ein anderer Komponist hat derlei Klopper im Köcher und läßt mich auf der anderen Seite häufig so kalt. Mein erster CD-Eindruck von The Rake’s Progress war dann auch ein ziemlich angestaubter. Doch peu à peu kam ich den Feinheiten der Partitur auf die Schliche, lernte das ganze Gezopfe zu schätzen, mehr noch, zu bewundern. Seinen Höhepunkt erlebte meine Strawinsky-Renaissance wie gesagt mit der seligmachenden Greifswalder Premiere. Daß heute die Säfte eher auf Sparflamme zum Kochen gebracht wurden, hätte den beherrschten Tonsetzer selbst wahrscheinlich erfreut, scheint er doch der Contenance Zeit seines Lebens zugeneigt gewesen zu sein.
Warum Matthias Klink und Bo Skuvhus regelmäßig auf den Besetzungszetteln nicht gerade unbedeutender Häuser zu finden sind, dürfte sich rumgesprochen haben, was an diesem Nachmittag weit mehr frohlocken ließ, war die zusätzlich bestechende Qualität der hiesigen Sänger. Zwei Beispiele: Wer eine Anne Trulove aus den eigenen Reihen mit einer Sängerin wie Anett Fritsch besetzen kann, braucht sich wohl auch sonst um die lyrischen Sopranpartien keine Sorgen zu machen. Neben aller technischen Finesse, Geschmeidigkeit, Wärme und Empathie kommt man einfach auch in den Genuß einer schönen Stimme. Vielleicht ist das ein gutes Fazit meines Düsseldorf-Abstechers – schöne Stimmen. Beispielorgan Nr. 2 gehört Bruce Rankin, der „nur“ die relativ kurze Episode des Auktionators Sellem zu bestreiten hat. Doch wieder: welch klangschöner Tenor für diese kleine Rolle! Nachgeschlagen: Ensemblemitglied seit 1998 – da muß es einem um Loge und Co. in Düsseldorf nicht bang sein. Die Liste ließe sich fortsetzen und ist bereits durch den gestrigen Abend eng beschrieben.
Die Inszenierung setzt in stimmungsvollen bis grellen Bildern den Niedergang Rakewells librettotreu um, wobei die einzelnen Szenen strikt durch Vorhänge getrennt werden. Für meinen Geschmack trotz (oder wegen?) manches Fleckens nackter Haut und schrillen Tuchs ein wenig zu brav. Das fängt beim letztlich doch geniert agierenden Bordellpersonal an und hört bei der ziemlich harmlosen Baba auf. Hier wie dort ein wenig Provokation light. Dann doch lieber ganz ohne, oder mit Andeutungen arbeiten. Aber bis auf Detailfragen dieser Art gab es nichts an der Regiearbeit auszusetzen. Am stärksten empfand ich gerade das Eingangsbild der ländlichen Idylle, auf die Nick seinen Schatten wirft, die unheilvolle Aura insbesondere durch seinen teilnahmslosen Hilfs-Homunculus generierend.
Bo Skuvhus ist schon ein Teufelskerl – wenn das allzu nahe liegende Bild erlaubt ist – stimmlich ein Orkan und darstellerisch nicht minder stürmisch. Matthias Klink zudem ein besonderer Tenor, eine seltene Kombination aus oratorienhafter, schlanker Lyrik und beachtlichem Stahl. Mir mitunter einen Tick zu weinerlich, auch wenn die Rolle diese Ausgestaltung nahe legt. Beide zusammen bilden naturgemäß das Zentrum auch dieser Inszenierung, wobei für mich die Sängerin der Anne zur heimlichen Heldin des Abend wurde, weil sie die Wandlung vom naiven Anhängsel zur selbstbestimmten, handelnden Frau in jedem Stadium absolut glaubhaft auf die Bühne brachte.
Ein besonders zwingender Kulisseneffekt sei an dieser Stelle noch erwähnt: Im Übergang zur Irrenhausszene wird auf den Vorhang verzichtet, stattdessen entschweben die Wände der prunkvollen Rakewell-Villa gen Schnürboden, wobei jedoch zwei bislang in das Raumgefüge integrierte korinthische Säulen an ihrem Platz bleiben und, nun freistehend, den Rahmen für das mythologisch verklärte Scheiden des Paares bilden. Ebenso subtil wie eindrucksvoll.
Mein Düsseldorfer Fazit hatte ich ja bereits formuliert, daher zur Abwechslung mal was schlecht Gereimtes: Am Flusse steht ein Musenhain, es ist die Oper (deutsch) am Rhein.
Igor Strawinsky – The Rake's Progress
Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung – Sabine Hartmannshenn
Bühne – Dieter Richter
Kostüme – Susana Mendoza
Licht – Volker Weinhart
Chorleitung – Christoph Kurig
Dramaturgie – Anne do Paco
Tom Rakewell – Matthias Klink
Anne Trulove – Anett Fritsch
Nick Shadow – Bo Skuvhus
Baba the Turk – Susan Maclean
Mother Goose – Bonita Hyman
Trulove – Sami Luttinen
Sellem – Bruce Rankin
Wärter des Irrenhauses – David Jerusalem
Nick Shadows Gehilfe – Harald Beutelstahl
Chor der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker
26. Mai 2012
The Turn of the Screw – Wen-Pin Chien.
Opernhaus Düsseldorf.
19:30 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 49
Kein Zweifel: Diese Oper beflügelt die Kreativität der Theaterschaffenden. Nach der phänomenalen Bremer Inszenierung im November nun ein weiterer Höhepunkt in meiner hausübergreifenden Spielzeitlese. Faszinierend zu erleben, wie man ein Stück auf zwei so verschiedene Arten ausgestalten kann, die dennoch beide eine unentrinnbare Suggestionskraft eint. Zweimal absolute Stringenz in der Handlungsaufbereitung, zweimal Bühnenbilder von albtraumhafter Intensität, zweimal szenisches und musikalisches Höchstniveau.
Heute hat aber auch alles gepaßt! Die Musik: Vollendet dargeboten durch die Britten-erprobten Düsseldorfer Symphoniker unter der sensiblen Stabführung Wen-Pin Chiens. Noch nie von ihm gehört – dummerweise! Sehr fähiger Mann. Die nächtliche Szene, in der die schlafenden Kinder von den Geistern heimgesucht werden, formte sich zu einer gigantischen klanglichen Steigerung, wie ich sie in diesem Bild bislang noch nicht erlebt habe. Die permanent fesselnde Orchesterleistung wird zudem durch eine traumhafte Akustik verlustfrei ins Mark übermittelt, um dort für Schauer wohliger wie eiskalter Natur zu sorgen.
Die Sänger: Ich ziehe eine ganze Hutsammlung vor dieser idealtypischen Besetzung. Und vor der Ensemblepflege an diesem Hause – sorgen doch, abgesehen von den Kinderrollen, ausschließlich langjährige (!) Mitglieder der Rheinoper für diese Lehrstunde vokaler Homogenität und Exzellenz. Das nehme ich als Wahl-Hamburger durchaus neidvoll zur Kenntnis. Was für eine hausgemachte Qualität!
Hatte mir Corby Welch bereits bei der letztjährigen Britten-Ausgabe der Symphoniker im Foyer sehr zugesagt, bezeugte er nun in der Rolle des Quint seine besondere Eignung für die Tenorpartien des Orpheus Britannicus. Auch wenn er regiebedingt nicht körperlich in Erscheinung trat, bewies er Kraft seiner ausdrucksstarken Stimme, wie sich rein durch Gesang ein Charakter bis ins letzte Detail ausfeilen läßt. Verführerischer Wohllaut neben zerknirschter Deklamation, süß und vergiftend, eine beeindruckende gestaltlose Gestaltwerdung des „Teufels“ Peter Quint.
Mit eben derselben Intensität gingen auch die drei weiteren Ensemblemitglieder zu Werke, so daß der Abend solistisch wie in Kombination (The Governess mit Mrs. Grose bzw. Miss Jessel mit Peter Quint) ein gesanglicher Hochgenuß wurde. Besondere Beachtung gebührt nicht zuletzt den beiden Kinderrollen, die man sich stimmlich – aber vor allem auch darstellerisch – nicht professioneller und involvierter hätte erträumen können.
Die Inszenierung: Verfolgte man in Bremen eher das Prinzip der Abstraktion, wählte die Regie hier eine scheinbar relativ klassische, jedoch nicht minder tiefgehende Umsetzung. Das alte englische Anwesen wird durch Bühnenbild und Requisiten weitgehend realistisch umrissen. In der Szenenfolge, die gemäß des Librettos auch Bilder außerhalb des Gemäuers einschließt, ist es jedoch immer das Haus selbst, das in Variationen den Hintergrund für die Geschehnisse bietet – in dieser Konzentration auf das Innere Blys der Bremer Fokussierung auf den einen, immer wieder gespiegelten Raum nicht unähnlich.
Zumal diesen alten Mauern ein Eigenleben gegeben wird, das in Verbindung mit den geisterhaften Erscheinungen (oder Einbildungen) steht und einen höchst wandelbaren Ort des Grauens etabliert. Ob es die flackernde Deckenlampe ist, die letztlich in vierfacher Staffelung zusammen mit der Chor-artig gewölbten Rückwand im entsprechenden Bild eine Kirchenatmosphäre schafft oder der steile Treppenaufgang, der zwischenzeitlich gekippt, gegen Ende gar von der Decke hängend zum Einsatz kommt oder auch die wogende Decke beim Dialog über das Tote Meer, all dies illustriert das Verwunschene des Ortes – oder eben doch den aufblühenden Wahnsinn der Gouvernante.
Ein weiteres Beispiel für die handlungsbezogene Wandelbarkeit des Inventars liefern die beiden schlichten Waschbecken auf der Bühne. Anfangs bloßer Ausdruck der Erziehungsroutine, später als Weihwasserbecken eingesetzt, an denen die Kinder mit ihren Zahnbürsten die Blasphemie der Glockenszene auf die Spitze treiben, schließlich als Tränke für Floras „Schlafenlegen“ ihrer Puppe, das Miles Folter-Ende durch die Gouvernante vorwegnimmt. Ein filigran geschwungener Taktstock wird in den Händen des Kindes mehr und mehr zum Werkzeug wild um sich schlagenden Hasses. Das gediegene Mobiliar als Sinnbild einer gescheiterten Ordnung liegt letztlich zerschmettert herum, statt züngelnder Kerzen brennt offenes Feuer.
Besonders faszinierend ist der Umgang mit den Geisterwesen in dieser Inszenierung. Treten sie zu Beginn als schauerliche Schattenspiele in Erscheinung (geniale Lichtregie!), manifestieren sich Quint und Jessel dann direkt als gleichsam düster-entrückte wie zauberisch-anmutige Untote, verkörpert durch zwei Tänzer (Miss Jessel wahlweise auch durch die eigentliche Sängerin, Anke Krabbe, in gleicher Gewandung). Die tänzerische Bewegungsart und Körperlichkeit der beiden Darsteller, vor allem Quints, sind von unschätzbarem Wert für die ganze Produktion. Ulrich Kupas gestaltet Quint als gesichtslos bedrohlichen, gleichzeitig anziehend athletischen Charakter, der Macht über die anderen Beteiligten, ob im Dies- oder Jenseits, auszuüben in der Lage ist.
Macht über die Kinder, insbesondere Miles. Die eingangs angesprochene Nachtszene, in der Quint und Miss Jessel von Miles und Flora in ihren Betten Besitz ergreifen, möchte ich ohne Übertreibung in die Reihe meiner Fesselndsten, Faszinierendsten und gleichzeitig Verstörendsten Operneindrücke einsortieren. Schlichtweg brillant die Umsetzung, bei der die Geister in einer perspektivisch ausgefeilten Parallelchoreografie ein versetztes, gewissermaßen gespiegeltes Bett anstelle jenes heimsuchen, in dem tatsächlich die Kinder liegen, so daß sich aber jede Geste, alles Drohen und Ziehen und Zerren ohne direkte körperliche Einwirkung auf die verzweifelten Kinder überträgt. Es ist unübersehbar, daß diese Inszenierung höchste darstellerische Ansprüche auch an die Kinderrollen stellt – die von den beiden jungen Künstlern in erschütternd intensiver Weise in besagter und allen übrigen Szenen erfüllt wurden.
Macht über die Haushälterin, die scheinbar mehr mit ihren ehemaligen Kollegen verbindet, als sie zugeben mag. Ihre Erziehungsmethoden sind bloße Fassade, um die Kinder als dressierte Knicks- und Verbeugungsmarionetten präsentieren zu können, kaschieren jedoch keinesfalls ihren eigenen undisziplinierten Charakter. So ist sie es folgerichtig selbst, die den Brief der Gouvernante verschwinden läßt, nachdem sie Miles bei dessen Diebstahl ertappt hat – wie der Junge ein Werkzeug Quints.
Macht über Miss Jessel, die von Quint in jeder Hinsicht abhängig ist, und die, wie Quint selbst, scheinbar nur für die Gouvernante sichtbar ist. In einer Szene kriechen gar vier Inkarnationen der ehemaligen Kinderfrau durch das Bild, so als wollten sie den Beteuerungen der Gouvernante gegenüber Mrs. Grose gleich vierfach Hohn sprechen.
Schließlich Macht über die Gouvernante. Ein besonders interessanter Aspekt der Inszenierung liegt in der Betonung der Tatsache, daß die Gouvernante in Miss Jessel ihre Vorgängerin hatte, oder umgekehrt formuliert, in der Nachfolge Miss Jessels an diesem Ort wirkt. Diesem Umstand wird in der Regiearbeit immer wieder auf verschiedene Arten Rechnung getragen, die allesamt auf eine Überlegung abzielen: Nachfolge nicht allein bezogen auf die Arbeitsstelle, sondern Nachfolge, besser Neuauflage im Verhältnis zu Quint, in letzter Konsequenz einer Neuauflage moralischen Scheiterns, in diesem Fall eines Scheiterns an den eigenen Ansprüchen – oder an der eigenen Wahrnehmung.
Der Zuschauer erlebt im Laufe der Ereignisse wie in einer Rückblende die Ankunft Miss Jessels bei Mrs. Grose und den Kindern – als exakte Kopie der Eingangsszene der Gouvernante. Was in die zeitlich korrekte Abfolge gebracht ergibt, daß die Gouvernante nur eine Wiederholung lebt. Kopie, Wiederholung, Spiegelung – diese Begriffe erfassen das Verhältnis beider Gouvernanten zueinander und zu ihrem Umfeld. Eindringlich die Apfelschälszene, in der erst die neue und dann die alte Kinderfrau von ihrer Tätigkeit ablassen, wie um einer Bedrohung nachzuspüren. Das Küchenmesser als verbindendes Element. Assoziationen spinnen sich fort. Ein potenzielles Mordwerkzeug, ein Schutz gegen Gefahren – aber wer sollte hier eigentlich wen fürchten?
Bei Quint schließt sich der Kreis, er ist Bedrohung und Verheißung in einem, gewinnt ebenso Gewalt über die Gouvernante wie über ihre Vorgängerin – auch hier durch das perspektivisch versetzte Zusammenspiel verdeutlicht. Die Gouvernante und Miss Jessel sind wie zwei Seiten eines Spiegels, durch den Quint auch direkten Zugriff auf die Gouvernante erhält. Am Ende geht diese nach dem Mord an Miles selbst zu den Schatten, wird eine von „ihnen“ – die es vielleicht von Anfang an nur in ihr gegeben hat, seit sie das erste mal einen verwischten Fleck über die Wand des Anwesens huschen wähnte.
Benjamin Britten – The Turn of the Screw
Musikalische Leitung – Wen-Pin Chien
Inszenierung – Immo Karaman
Choreographie – Fabian Posca
Bühne – Kaspar Zwimpfer
Kostüme – Marie-Luise Walek
Licht – Michael Röger
Dramaturgie – Sonja Westerbeck
The Prologue / Peter Quint — Corby Welch
The Governess – Sylvia Hamvasi
Mrs. Grose – Marta Márquez
Miss Jessel – Anke Krabbe
Miles – Kaisun Raj
Flora – Yolanda Shamash
Quint II – Ulrich Kupas
Miss Jessel II – Anna Roura-Maldonado
Düsseldorfer Symphoniker
Kein Zweifel: Diese Oper beflügelt die Kreativität der Theaterschaffenden. Nach der phänomenalen Bremer Inszenierung im November nun ein weiterer Höhepunkt in meiner hausübergreifenden Spielzeitlese. Faszinierend zu erleben, wie man ein Stück auf zwei so verschiedene Arten ausgestalten kann, die dennoch beide eine unentrinnbare Suggestionskraft eint. Zweimal absolute Stringenz in der Handlungsaufbereitung, zweimal Bühnenbilder von albtraumhafter Intensität, zweimal szenisches und musikalisches Höchstniveau.
Heute hat aber auch alles gepaßt! Die Musik: Vollendet dargeboten durch die Britten-erprobten Düsseldorfer Symphoniker unter der sensiblen Stabführung Wen-Pin Chiens. Noch nie von ihm gehört – dummerweise! Sehr fähiger Mann. Die nächtliche Szene, in der die schlafenden Kinder von den Geistern heimgesucht werden, formte sich zu einer gigantischen klanglichen Steigerung, wie ich sie in diesem Bild bislang noch nicht erlebt habe. Die permanent fesselnde Orchesterleistung wird zudem durch eine traumhafte Akustik verlustfrei ins Mark übermittelt, um dort für Schauer wohliger wie eiskalter Natur zu sorgen.
Die Sänger: Ich ziehe eine ganze Hutsammlung vor dieser idealtypischen Besetzung. Und vor der Ensemblepflege an diesem Hause – sorgen doch, abgesehen von den Kinderrollen, ausschließlich langjährige (!) Mitglieder der Rheinoper für diese Lehrstunde vokaler Homogenität und Exzellenz. Das nehme ich als Wahl-Hamburger durchaus neidvoll zur Kenntnis. Was für eine hausgemachte Qualität!
Hatte mir Corby Welch bereits bei der letztjährigen Britten-Ausgabe der Symphoniker im Foyer sehr zugesagt, bezeugte er nun in der Rolle des Quint seine besondere Eignung für die Tenorpartien des Orpheus Britannicus. Auch wenn er regiebedingt nicht körperlich in Erscheinung trat, bewies er Kraft seiner ausdrucksstarken Stimme, wie sich rein durch Gesang ein Charakter bis ins letzte Detail ausfeilen läßt. Verführerischer Wohllaut neben zerknirschter Deklamation, süß und vergiftend, eine beeindruckende gestaltlose Gestaltwerdung des „Teufels“ Peter Quint.
Mit eben derselben Intensität gingen auch die drei weiteren Ensemblemitglieder zu Werke, so daß der Abend solistisch wie in Kombination (The Governess mit Mrs. Grose bzw. Miss Jessel mit Peter Quint) ein gesanglicher Hochgenuß wurde. Besondere Beachtung gebührt nicht zuletzt den beiden Kinderrollen, die man sich stimmlich – aber vor allem auch darstellerisch – nicht professioneller und involvierter hätte erträumen können.
Die Inszenierung: Verfolgte man in Bremen eher das Prinzip der Abstraktion, wählte die Regie hier eine scheinbar relativ klassische, jedoch nicht minder tiefgehende Umsetzung. Das alte englische Anwesen wird durch Bühnenbild und Requisiten weitgehend realistisch umrissen. In der Szenenfolge, die gemäß des Librettos auch Bilder außerhalb des Gemäuers einschließt, ist es jedoch immer das Haus selbst, das in Variationen den Hintergrund für die Geschehnisse bietet – in dieser Konzentration auf das Innere Blys der Bremer Fokussierung auf den einen, immer wieder gespiegelten Raum nicht unähnlich.
Zumal diesen alten Mauern ein Eigenleben gegeben wird, das in Verbindung mit den geisterhaften Erscheinungen (oder Einbildungen) steht und einen höchst wandelbaren Ort des Grauens etabliert. Ob es die flackernde Deckenlampe ist, die letztlich in vierfacher Staffelung zusammen mit der Chor-artig gewölbten Rückwand im entsprechenden Bild eine Kirchenatmosphäre schafft oder der steile Treppenaufgang, der zwischenzeitlich gekippt, gegen Ende gar von der Decke hängend zum Einsatz kommt oder auch die wogende Decke beim Dialog über das Tote Meer, all dies illustriert das Verwunschene des Ortes – oder eben doch den aufblühenden Wahnsinn der Gouvernante.
Ein weiteres Beispiel für die handlungsbezogene Wandelbarkeit des Inventars liefern die beiden schlichten Waschbecken auf der Bühne. Anfangs bloßer Ausdruck der Erziehungsroutine, später als Weihwasserbecken eingesetzt, an denen die Kinder mit ihren Zahnbürsten die Blasphemie der Glockenszene auf die Spitze treiben, schließlich als Tränke für Floras „Schlafenlegen“ ihrer Puppe, das Miles Folter-Ende durch die Gouvernante vorwegnimmt. Ein filigran geschwungener Taktstock wird in den Händen des Kindes mehr und mehr zum Werkzeug wild um sich schlagenden Hasses. Das gediegene Mobiliar als Sinnbild einer gescheiterten Ordnung liegt letztlich zerschmettert herum, statt züngelnder Kerzen brennt offenes Feuer.
Besonders faszinierend ist der Umgang mit den Geisterwesen in dieser Inszenierung. Treten sie zu Beginn als schauerliche Schattenspiele in Erscheinung (geniale Lichtregie!), manifestieren sich Quint und Jessel dann direkt als gleichsam düster-entrückte wie zauberisch-anmutige Untote, verkörpert durch zwei Tänzer (Miss Jessel wahlweise auch durch die eigentliche Sängerin, Anke Krabbe, in gleicher Gewandung). Die tänzerische Bewegungsart und Körperlichkeit der beiden Darsteller, vor allem Quints, sind von unschätzbarem Wert für die ganze Produktion. Ulrich Kupas gestaltet Quint als gesichtslos bedrohlichen, gleichzeitig anziehend athletischen Charakter, der Macht über die anderen Beteiligten, ob im Dies- oder Jenseits, auszuüben in der Lage ist.
Macht über die Kinder, insbesondere Miles. Die eingangs angesprochene Nachtszene, in der Quint und Miss Jessel von Miles und Flora in ihren Betten Besitz ergreifen, möchte ich ohne Übertreibung in die Reihe meiner Fesselndsten, Faszinierendsten und gleichzeitig Verstörendsten Operneindrücke einsortieren. Schlichtweg brillant die Umsetzung, bei der die Geister in einer perspektivisch ausgefeilten Parallelchoreografie ein versetztes, gewissermaßen gespiegeltes Bett anstelle jenes heimsuchen, in dem tatsächlich die Kinder liegen, so daß sich aber jede Geste, alles Drohen und Ziehen und Zerren ohne direkte körperliche Einwirkung auf die verzweifelten Kinder überträgt. Es ist unübersehbar, daß diese Inszenierung höchste darstellerische Ansprüche auch an die Kinderrollen stellt – die von den beiden jungen Künstlern in erschütternd intensiver Weise in besagter und allen übrigen Szenen erfüllt wurden.
Macht über die Haushälterin, die scheinbar mehr mit ihren ehemaligen Kollegen verbindet, als sie zugeben mag. Ihre Erziehungsmethoden sind bloße Fassade, um die Kinder als dressierte Knicks- und Verbeugungsmarionetten präsentieren zu können, kaschieren jedoch keinesfalls ihren eigenen undisziplinierten Charakter. So ist sie es folgerichtig selbst, die den Brief der Gouvernante verschwinden läßt, nachdem sie Miles bei dessen Diebstahl ertappt hat – wie der Junge ein Werkzeug Quints.
Macht über Miss Jessel, die von Quint in jeder Hinsicht abhängig ist, und die, wie Quint selbst, scheinbar nur für die Gouvernante sichtbar ist. In einer Szene kriechen gar vier Inkarnationen der ehemaligen Kinderfrau durch das Bild, so als wollten sie den Beteuerungen der Gouvernante gegenüber Mrs. Grose gleich vierfach Hohn sprechen.
Schließlich Macht über die Gouvernante. Ein besonders interessanter Aspekt der Inszenierung liegt in der Betonung der Tatsache, daß die Gouvernante in Miss Jessel ihre Vorgängerin hatte, oder umgekehrt formuliert, in der Nachfolge Miss Jessels an diesem Ort wirkt. Diesem Umstand wird in der Regiearbeit immer wieder auf verschiedene Arten Rechnung getragen, die allesamt auf eine Überlegung abzielen: Nachfolge nicht allein bezogen auf die Arbeitsstelle, sondern Nachfolge, besser Neuauflage im Verhältnis zu Quint, in letzter Konsequenz einer Neuauflage moralischen Scheiterns, in diesem Fall eines Scheiterns an den eigenen Ansprüchen – oder an der eigenen Wahrnehmung.
Der Zuschauer erlebt im Laufe der Ereignisse wie in einer Rückblende die Ankunft Miss Jessels bei Mrs. Grose und den Kindern – als exakte Kopie der Eingangsszene der Gouvernante. Was in die zeitlich korrekte Abfolge gebracht ergibt, daß die Gouvernante nur eine Wiederholung lebt. Kopie, Wiederholung, Spiegelung – diese Begriffe erfassen das Verhältnis beider Gouvernanten zueinander und zu ihrem Umfeld. Eindringlich die Apfelschälszene, in der erst die neue und dann die alte Kinderfrau von ihrer Tätigkeit ablassen, wie um einer Bedrohung nachzuspüren. Das Küchenmesser als verbindendes Element. Assoziationen spinnen sich fort. Ein potenzielles Mordwerkzeug, ein Schutz gegen Gefahren – aber wer sollte hier eigentlich wen fürchten?
Bei Quint schließt sich der Kreis, er ist Bedrohung und Verheißung in einem, gewinnt ebenso Gewalt über die Gouvernante wie über ihre Vorgängerin – auch hier durch das perspektivisch versetzte Zusammenspiel verdeutlicht. Die Gouvernante und Miss Jessel sind wie zwei Seiten eines Spiegels, durch den Quint auch direkten Zugriff auf die Gouvernante erhält. Am Ende geht diese nach dem Mord an Miles selbst zu den Schatten, wird eine von „ihnen“ – die es vielleicht von Anfang an nur in ihr gegeben hat, seit sie das erste mal einen verwischten Fleck über die Wand des Anwesens huschen wähnte.
Benjamin Britten – The Turn of the Screw
Musikalische Leitung – Wen-Pin Chien
Inszenierung – Immo Karaman
Choreographie – Fabian Posca
Bühne – Kaspar Zwimpfer
Kostüme – Marie-Luise Walek
Licht – Michael Röger
Dramaturgie – Sonja Westerbeck
The Prologue / Peter Quint — Corby Welch
The Governess – Sylvia Hamvasi
Mrs. Grose – Marta Márquez
Miss Jessel – Anke Krabbe
Miles – Kaisun Raj
Flora – Yolanda Shamash
Quint II – Ulrich Kupas
Miss Jessel II – Anna Roura-Maldonado
Düsseldorfer Symphoniker
23. Mai 2012
Ariadne auf Naxos – Simone Young.
Staatsoper Hamburg.
19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 16
Angefixt von der Opernwerkstatt vor zwei Wochen ging es heute in die neuinszenierte Hamburger Ariadne. Am liebsten würde ich direkt zum Wiederholungstäter – nicht, weil der Abend insgesamt ein herausragender gewesen wäre – sondern, um Anne Schwanewilms vokaler Seelenwanderung ein weiteres Mal ungläubig beiwohnen zu dürfen.
Die Stimme des Abends ließ das Begeisterungspendel zumindest bei ihren Auftritten weit ausschlagen. Ich kenne wenig Soprane dieser Größenordnung, die im Piano und Pianissimo über derart mannigfaltige Abstufungen in Bezug auf Dynamik und Ausdruck gebieten. Die von mir oft herangezogene Stanze „differenziert“ verkommt da fast schon zur Beleidigung. Beredtes Singen möchte ich es nennen – die Fähigkeit, im Singen mehr zu transportieren als Tonhöhen. Eine Kunst, die recht selten anzutreffen ist, aber bei jeder Begegnung die Wahrwerdung des Unwahrscheinlichen feiert – die vollkommene Symbiose von Ton und Wort.
Bei Schwanewilms kommt einfach alles zusammen: Phrasierungszauber, Textverständlichkeit, ein unverwechselbares Timbre – Liederabend-Schattierungen auf der Opernbühne, das ist rar. Recht häufig hingegen geht solch stimmdarstellerische Begabung mit szenischem Gespür einher, so auch in diesem Fall. Abgesehen von der sehr reduziert agierenden Ariadne genügen schon die paar Momente der Primadonna im Vorspiel, um festzustellen, daß Frau Schwanewilms über ausgesprochene Bühnenpräsenz verfügt – herrlich arrogant und zickig, wie die Diva hier alles und jeden niederfunkelt.
Eine ähnliche Rundumbegabung stellt am heutigen Abend nur der versierte Franz Grundheber dar. Hatte er zwar hier und da mit einem Hustenreiz zu kämpfen, konnte er insgesamt aber wieder mal den ganzen jungen Hüpfern zeigen, wo stimmlich und darstellerisch der Hammer hängt. Ein idealer Musiklehrer – gütig, wissend, durch und durch sympathisch. Oft ist es nur ein dezentes Minenspiel, das den Unterschied macht. Wie froh bin ich doch, ihn als Holländer, Barak, Scarpia oder Simon Boccanegra erlebt haben zu dürfen.
Wenn ich jetzt schon mal bei den Sängern bin – nennenswerte Ausfälle waren nicht zu verzeichnen. Dennoch unterliegt diese Produktion ihrer hannoverschen Alternative in allen Belangen. Konnte ich mich im Januar ob Spielwitz und Klangschönheit kaum einkriegen, herrschte hier, vor allem im zweiten Teil, gepflegte Kaugummiatmosphäre. Die „gefährlichen Längen“ vor denen der Tanzmeister im Libretto warnt – da waren sie. Wobei ich die Musik aufs vehementeste in Schutz nehmen möchte, viel schöner geht es an und für sich kaum. Aber eben nicht heute.
Womit wir wieder bei den Sängern wären. Doch das trifft es auch nicht wirklich. Nun ja, Cristina Damian als Komponist hat schon eine der Anlage nach wohlklingende Mezzostimme, die aber leider nur bedingt für die Feinheiten der Partie einzustehen im Stande ist. Und um Feinheiten geht es in diesem Werk von vorne bis hinten. Insbesondere manch leiser Ton gerät da etwas brüchig, unelegant, mitunter nichtssagend. Schwingt sich ihre Stimme auf, ist der Eindruck gleich ein anderer, hier droht jedoch Gefahr durch das Orchester, das allzu oft Damians leidenschaftliche Ausbrüche unter sich zu begraben gewillt scheint. Leidenschaft zeichnet auch die szenische Darstellung des Komponisten aus.
Die Sängerin der Zerbinetta, Hayoung Lee, wartet mit ihrem gewohnt zarten Stimmchen auf, das kommt schon alles sehr fein und flexibel daher, wenn das letzte bißchen Tiefe auch fehlen mag. Auf jeden Fall eine mehr als ordentliche Leistung und kein Grund für Buh-Rufe (!?) – da war wohl jemand mit dem falschen Ohr zuerst aufgestanden. Ganz ehrlich, wer hier buht, steht mit der Realität auf Kriegsfuß. Sicher, die Partie beinhaltet vielleicht mehr Feinheiten – da war es wieder – als heute zu Gehör gebracht wurden. Und nein, Frau Lee ist keine Gruberova oder Battle – ja und? Wenn es danach ginge, käme man im bundesdeutschen Opernalltag aus dem Buhen gar nicht mehr heraus. Was soll das denn für ein Maßstab sein? Dann kann man sich ja gleich mit seiner Schellacksammlung einsargen lassen.
Von den kleineren Rollen möchte ich Jürgen Sacher als Tanzmeister hervorheben. Die Ausgestaltung als versiffter Kettenraucher gab der Rolle etwas Verschlagenes, das Sacher perfekt transportierte. Stimmlich auch beim Schlußapplaus unterschätzt. Als Krone der Nymphen Rossmanith in gewohnt hauchzarter Manier – ein wahres Zauber-Echo. Die Spaßmachertruppe gesanglich wie darstellerisch (vor allem nach der Pause) blaß, der Haushofmeister hingegen zum Teil mit vorbildlich arroganter Attitüde.
Habe ich da nicht jemanden vergessen? Ach ja, Bacchus persönlich! Ich muß gestehen, daß mich Herr Botha etwas enttäuscht hat – wenn auch auf höchstem Niveau. Da braucht man sich gar nichts vormachen, wenn jemand mit seinem Renommee die Hansestadt besucht, ist die Erwartungshaltung schon gewaltig. Und siehe, auch er ist nur ein Mensch, auch er hat Probleme mit den höchsten Tönen, auch er „leidet“ an dieser gewissermaßen unfairen Partie. Natürlich besitzt er eine wunderbar jugendliche Stimme, dazu enorme Strahlkraft, trotzdem war es in meinen Ohren nur ein guter, kein göttlicher Auftritt.
Um ein letztes Mal auf den Umgang mit Feinheiten zu sprechen zu kommen – das Dirigat trug heute wenig dazu bei, die Vorzüge des Notentextes hervorzuheben. Im Vorspiel deutlich zu oberflächlich, unelegant, nach Wiederanpfiff weitgehend spannungslos. Exemplarisch für Letzteres das Finale – in Hannover unter Kamensek ein sich stetig steigernder Rausch, unter anderem durch sublime Steigerung des Tempos erreicht, hier ein langsames Gedehne ohne Ziel. Hinzu kam der befremdliche Effekt einer akustischen Magerkost, wie sie (siehe Hannover) nicht auf die reduzierte Anzahl der Musiker zurückzuführen ist. Es klang einfach nicht. Besonders ernüchternd die wenigen aufwallenden Tutti-Passagen, die nur einen blassen Abglanz des Vertrauten lieferten. Dabei kann ich mich noch genau an meine Gedanken in der Leinestadt erinnern: was für ein Sound von dieser kleinen Schar! Hmm, Platztechnisch lagen beide Abende dicht beieinander, das akustische Ergebnis leider nicht.
Und ja, eine Inszenierung gab’s auch noch. Abgesehen von einigen peinlichen Berufsjugendlichkeiten, die man den Agierenden abnötigte (heißa, was ist ein Stinkefinger in der Oper doch ungesehen) und manch möchtegernkontrapunktischem Gehampel (die Nymphen als „Opernbesucher“ schäkern mit imaginären Freunden im Publikum, während Ariadne vor Pathos zerfließt) gab es eine ordentliche Arbeit. Im Vorspiel tröstete eine fulminant quirlige Personenregie (insbesondere Frau Lee konnte sich richtig austoben) über den Mangel an musikalischer Finesse hinweg – sehr gelungen, weniger Musiktheater als eher ein Theaterstück mit Musikbegleitung, aber okay.
Dummerweise verkam gerade die eigentliche Oper in der Oper zur Geduldsprobe. Ästhetisch zwar, aber statisch bis in die altgriechischen Haarspitzen. Na gut, das Bild der Todesdienerinnen mit ihren Messern, das später pfiffigerweise von dem eifersüchtigen Spaßmachertrio zwecks Erdolchung des Auserwählten aufgegriffen wird, besitzt wirklich mehr als dekorativen Charakter. Was ich dem prahlerischen Dickschiff am Schluß absprechen möchte. Die Idee mit dem „echten“ Publikum auf der Bühne – geschenkt. Mein Hauptvorwurf in Bezug auf den zweiten Teil ist jedoch vielmehr: gerade die apostrophierte Verzahnung der beiden Welten, des Tragischen und des Heiteren, findet für meine Begriffe nicht statt. Die Auftritte bleiben jeweils episodisch, voneinander getrennt, (zumindest für den Abend) unvereinbar. Und gerade in diesem Mit- und von mir aus auch Gegeneinander liegt doch der Reiz, ihr Nebeneinander ist Bühnenalltag.
Fazit: Als reichster Mann von Wien hätte ich meine munifizente Gratifikation heute lieber in mehr Feuerwerk investiert.
Richard Strauss – Ariadne auf Naxos
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Christian Stückl
Bühnenbild und Kostüme – Stefan Hageneier
Choreographie – Eric Miot
Licht – Michael Bauer
Musiklehrer – Franz Grundheber
Komponist – Cristina Damian
Tenor / Bacchus – Johan Botha
Tanzmeister – Jürgen Sacher
Perückenmacher – Thomas Florio
Haushofmeister / Lakai – Levente Páll
Zerbinetta – Hayoung Lee
Primadonna / Ariadne – Anne Schwanewilms
Harlekin – Viktor Rud
Scaramuccio – Chris Lysack
Truffaldin – Adrian Sâmpetrean
Brighella – Jun-Sang Han
Najade – Katerina Tretyakova
Dryade – Rebecca Jo Loeb
Echo – Gabriele Rossmanith
Philharmoniker Hamburg
Angefixt von der Opernwerkstatt vor zwei Wochen ging es heute in die neuinszenierte Hamburger Ariadne. Am liebsten würde ich direkt zum Wiederholungstäter – nicht, weil der Abend insgesamt ein herausragender gewesen wäre – sondern, um Anne Schwanewilms vokaler Seelenwanderung ein weiteres Mal ungläubig beiwohnen zu dürfen.
Die Stimme des Abends ließ das Begeisterungspendel zumindest bei ihren Auftritten weit ausschlagen. Ich kenne wenig Soprane dieser Größenordnung, die im Piano und Pianissimo über derart mannigfaltige Abstufungen in Bezug auf Dynamik und Ausdruck gebieten. Die von mir oft herangezogene Stanze „differenziert“ verkommt da fast schon zur Beleidigung. Beredtes Singen möchte ich es nennen – die Fähigkeit, im Singen mehr zu transportieren als Tonhöhen. Eine Kunst, die recht selten anzutreffen ist, aber bei jeder Begegnung die Wahrwerdung des Unwahrscheinlichen feiert – die vollkommene Symbiose von Ton und Wort.
Bei Schwanewilms kommt einfach alles zusammen: Phrasierungszauber, Textverständlichkeit, ein unverwechselbares Timbre – Liederabend-Schattierungen auf der Opernbühne, das ist rar. Recht häufig hingegen geht solch stimmdarstellerische Begabung mit szenischem Gespür einher, so auch in diesem Fall. Abgesehen von der sehr reduziert agierenden Ariadne genügen schon die paar Momente der Primadonna im Vorspiel, um festzustellen, daß Frau Schwanewilms über ausgesprochene Bühnenpräsenz verfügt – herrlich arrogant und zickig, wie die Diva hier alles und jeden niederfunkelt.
Eine ähnliche Rundumbegabung stellt am heutigen Abend nur der versierte Franz Grundheber dar. Hatte er zwar hier und da mit einem Hustenreiz zu kämpfen, konnte er insgesamt aber wieder mal den ganzen jungen Hüpfern zeigen, wo stimmlich und darstellerisch der Hammer hängt. Ein idealer Musiklehrer – gütig, wissend, durch und durch sympathisch. Oft ist es nur ein dezentes Minenspiel, das den Unterschied macht. Wie froh bin ich doch, ihn als Holländer, Barak, Scarpia oder Simon Boccanegra erlebt haben zu dürfen.
Wenn ich jetzt schon mal bei den Sängern bin – nennenswerte Ausfälle waren nicht zu verzeichnen. Dennoch unterliegt diese Produktion ihrer hannoverschen Alternative in allen Belangen. Konnte ich mich im Januar ob Spielwitz und Klangschönheit kaum einkriegen, herrschte hier, vor allem im zweiten Teil, gepflegte Kaugummiatmosphäre. Die „gefährlichen Längen“ vor denen der Tanzmeister im Libretto warnt – da waren sie. Wobei ich die Musik aufs vehementeste in Schutz nehmen möchte, viel schöner geht es an und für sich kaum. Aber eben nicht heute.
Womit wir wieder bei den Sängern wären. Doch das trifft es auch nicht wirklich. Nun ja, Cristina Damian als Komponist hat schon eine der Anlage nach wohlklingende Mezzostimme, die aber leider nur bedingt für die Feinheiten der Partie einzustehen im Stande ist. Und um Feinheiten geht es in diesem Werk von vorne bis hinten. Insbesondere manch leiser Ton gerät da etwas brüchig, unelegant, mitunter nichtssagend. Schwingt sich ihre Stimme auf, ist der Eindruck gleich ein anderer, hier droht jedoch Gefahr durch das Orchester, das allzu oft Damians leidenschaftliche Ausbrüche unter sich zu begraben gewillt scheint. Leidenschaft zeichnet auch die szenische Darstellung des Komponisten aus.
Die Sängerin der Zerbinetta, Hayoung Lee, wartet mit ihrem gewohnt zarten Stimmchen auf, das kommt schon alles sehr fein und flexibel daher, wenn das letzte bißchen Tiefe auch fehlen mag. Auf jeden Fall eine mehr als ordentliche Leistung und kein Grund für Buh-Rufe (!?) – da war wohl jemand mit dem falschen Ohr zuerst aufgestanden. Ganz ehrlich, wer hier buht, steht mit der Realität auf Kriegsfuß. Sicher, die Partie beinhaltet vielleicht mehr Feinheiten – da war es wieder – als heute zu Gehör gebracht wurden. Und nein, Frau Lee ist keine Gruberova oder Battle – ja und? Wenn es danach ginge, käme man im bundesdeutschen Opernalltag aus dem Buhen gar nicht mehr heraus. Was soll das denn für ein Maßstab sein? Dann kann man sich ja gleich mit seiner Schellacksammlung einsargen lassen.
Von den kleineren Rollen möchte ich Jürgen Sacher als Tanzmeister hervorheben. Die Ausgestaltung als versiffter Kettenraucher gab der Rolle etwas Verschlagenes, das Sacher perfekt transportierte. Stimmlich auch beim Schlußapplaus unterschätzt. Als Krone der Nymphen Rossmanith in gewohnt hauchzarter Manier – ein wahres Zauber-Echo. Die Spaßmachertruppe gesanglich wie darstellerisch (vor allem nach der Pause) blaß, der Haushofmeister hingegen zum Teil mit vorbildlich arroganter Attitüde.
Habe ich da nicht jemanden vergessen? Ach ja, Bacchus persönlich! Ich muß gestehen, daß mich Herr Botha etwas enttäuscht hat – wenn auch auf höchstem Niveau. Da braucht man sich gar nichts vormachen, wenn jemand mit seinem Renommee die Hansestadt besucht, ist die Erwartungshaltung schon gewaltig. Und siehe, auch er ist nur ein Mensch, auch er hat Probleme mit den höchsten Tönen, auch er „leidet“ an dieser gewissermaßen unfairen Partie. Natürlich besitzt er eine wunderbar jugendliche Stimme, dazu enorme Strahlkraft, trotzdem war es in meinen Ohren nur ein guter, kein göttlicher Auftritt.
Um ein letztes Mal auf den Umgang mit Feinheiten zu sprechen zu kommen – das Dirigat trug heute wenig dazu bei, die Vorzüge des Notentextes hervorzuheben. Im Vorspiel deutlich zu oberflächlich, unelegant, nach Wiederanpfiff weitgehend spannungslos. Exemplarisch für Letzteres das Finale – in Hannover unter Kamensek ein sich stetig steigernder Rausch, unter anderem durch sublime Steigerung des Tempos erreicht, hier ein langsames Gedehne ohne Ziel. Hinzu kam der befremdliche Effekt einer akustischen Magerkost, wie sie (siehe Hannover) nicht auf die reduzierte Anzahl der Musiker zurückzuführen ist. Es klang einfach nicht. Besonders ernüchternd die wenigen aufwallenden Tutti-Passagen, die nur einen blassen Abglanz des Vertrauten lieferten. Dabei kann ich mich noch genau an meine Gedanken in der Leinestadt erinnern: was für ein Sound von dieser kleinen Schar! Hmm, Platztechnisch lagen beide Abende dicht beieinander, das akustische Ergebnis leider nicht.
Und ja, eine Inszenierung gab’s auch noch. Abgesehen von einigen peinlichen Berufsjugendlichkeiten, die man den Agierenden abnötigte (heißa, was ist ein Stinkefinger in der Oper doch ungesehen) und manch möchtegernkontrapunktischem Gehampel (die Nymphen als „Opernbesucher“ schäkern mit imaginären Freunden im Publikum, während Ariadne vor Pathos zerfließt) gab es eine ordentliche Arbeit. Im Vorspiel tröstete eine fulminant quirlige Personenregie (insbesondere Frau Lee konnte sich richtig austoben) über den Mangel an musikalischer Finesse hinweg – sehr gelungen, weniger Musiktheater als eher ein Theaterstück mit Musikbegleitung, aber okay.
Dummerweise verkam gerade die eigentliche Oper in der Oper zur Geduldsprobe. Ästhetisch zwar, aber statisch bis in die altgriechischen Haarspitzen. Na gut, das Bild der Todesdienerinnen mit ihren Messern, das später pfiffigerweise von dem eifersüchtigen Spaßmachertrio zwecks Erdolchung des Auserwählten aufgegriffen wird, besitzt wirklich mehr als dekorativen Charakter. Was ich dem prahlerischen Dickschiff am Schluß absprechen möchte. Die Idee mit dem „echten“ Publikum auf der Bühne – geschenkt. Mein Hauptvorwurf in Bezug auf den zweiten Teil ist jedoch vielmehr: gerade die apostrophierte Verzahnung der beiden Welten, des Tragischen und des Heiteren, findet für meine Begriffe nicht statt. Die Auftritte bleiben jeweils episodisch, voneinander getrennt, (zumindest für den Abend) unvereinbar. Und gerade in diesem Mit- und von mir aus auch Gegeneinander liegt doch der Reiz, ihr Nebeneinander ist Bühnenalltag.
Fazit: Als reichster Mann von Wien hätte ich meine munifizente Gratifikation heute lieber in mehr Feuerwerk investiert.
Richard Strauss – Ariadne auf Naxos
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Christian Stückl
Bühnenbild und Kostüme – Stefan Hageneier
Choreographie – Eric Miot
Licht – Michael Bauer
Musiklehrer – Franz Grundheber
Komponist – Cristina Damian
Tenor / Bacchus – Johan Botha
Tanzmeister – Jürgen Sacher
Perückenmacher – Thomas Florio
Haushofmeister / Lakai – Levente Páll
Zerbinetta – Hayoung Lee
Primadonna / Ariadne – Anne Schwanewilms
Harlekin – Viktor Rud
Scaramuccio – Chris Lysack
Truffaldin – Adrian Sâmpetrean
Brighella – Jun-Sang Han
Najade – Katerina Tretyakova
Dryade – Rebecca Jo Loeb
Echo – Gabriele Rossmanith
Philharmoniker Hamburg
13. Mai 2012
Düsseldorfer Symphoniker – Mario Venzago.
Tonhalle Düsseldorf.
11:00 Uhr, 1. Parkett A, Reihe 6, Platz 23
Benjamin Britten – Sinfonia da Requiem
Robert Schumann – Konzertstück op. 86 für Klavier und Orchester
(Gianluca Cascioli)
Zugabe: Johann Sebastian Bach – Andante F-Dur
(Pause)
Franz Schubert – Sinfonie Nr. 8 C-Dur D 944 „Große“
Nach einer Mini-Einführung kommt ein ernstes Thema zur Sprache: die Opernehe zwischen Düsseldorf und Duisburg stehe vor dem Aus, man plane die Partnerschaft einseitig von Duisburg aufzukündigen. Duisburg als Tourneetheater ohne eigene Truppe? In der Pause habe ich mich einer Petition für den Fortbestand angeschlossen – aber ich bin ja nur Duisburg-Besucher. Man wird sehen, wie wichtig den Einwohnern ihr Haus ist.
Die Tonhalle klingt wunderbar, klar und direkt, ein Platz etwas weiter hinten wäre wahrscheinlich noch besser gewesen. Das Orchester bestätigt seine gute Form – ein feiner Klangkörper, vor allem die Streicher sind eine Reise wert. Im Schubert hatten dann die Posaunen ihren bemerkenswert majestätisch-samtenen Auftritt.
Die Sinfonia da Requiem gehört zum Teuersten, das mir an musikalischen Schätzen bekannt ist. Die Interpretation war nicht schlecht, einige Tempoforcierungen in den langsamen Sätzen (z.B. Wiederholung des Flötenthemas, dritter Satz) haben allerdings etwas von jener stillen Wucht verwässert, die so typisch Britten ist. Dafür barst der zweite Satz geradezu vor Energie und Schärfe. So soll es sein.
Schumann zum Einschlafen (nicht die Wiedergabe!). Der Pianist sehr gut, schöner Anschlag, ein wenig arg gediegen vielleicht. Als Zugabe wieder mal Bach – und ich dachte, daß sei ein Geiger-Spleen.
Schubert zum Träumen. Ein großes Werk mustergültig dargeboten. Auch hier überzeugt das Orchester. Frisch, beschwingt, virtuos, voller Elan. Offenbar inspiriert durch das quirlige Dirigat der Grinsekatze Venzago. Er tänzelt, er fuchtelt, er beschwört – es scheint anzukommen. Am Schluß gewinnt er die Herzen aller Mütter im Saal, indem er seinen Strauß mit dem Verweis auf das besondere Datum einer Dame in der ersten Reihe überläßt. Ein schöner Tag.
Benjamin Britten – Sinfonia da Requiem
Robert Schumann – Konzertstück op. 86 für Klavier und Orchester
(Gianluca Cascioli)
Zugabe: Johann Sebastian Bach – Andante F-Dur
(Pause)
Franz Schubert – Sinfonie Nr. 8 C-Dur D 944 „Große“
Nach einer Mini-Einführung kommt ein ernstes Thema zur Sprache: die Opernehe zwischen Düsseldorf und Duisburg stehe vor dem Aus, man plane die Partnerschaft einseitig von Duisburg aufzukündigen. Duisburg als Tourneetheater ohne eigene Truppe? In der Pause habe ich mich einer Petition für den Fortbestand angeschlossen – aber ich bin ja nur Duisburg-Besucher. Man wird sehen, wie wichtig den Einwohnern ihr Haus ist.
Die Tonhalle klingt wunderbar, klar und direkt, ein Platz etwas weiter hinten wäre wahrscheinlich noch besser gewesen. Das Orchester bestätigt seine gute Form – ein feiner Klangkörper, vor allem die Streicher sind eine Reise wert. Im Schubert hatten dann die Posaunen ihren bemerkenswert majestätisch-samtenen Auftritt.
Die Sinfonia da Requiem gehört zum Teuersten, das mir an musikalischen Schätzen bekannt ist. Die Interpretation war nicht schlecht, einige Tempoforcierungen in den langsamen Sätzen (z.B. Wiederholung des Flötenthemas, dritter Satz) haben allerdings etwas von jener stillen Wucht verwässert, die so typisch Britten ist. Dafür barst der zweite Satz geradezu vor Energie und Schärfe. So soll es sein.
Schumann zum Einschlafen (nicht die Wiedergabe!). Der Pianist sehr gut, schöner Anschlag, ein wenig arg gediegen vielleicht. Als Zugabe wieder mal Bach – und ich dachte, daß sei ein Geiger-Spleen.
Schubert zum Träumen. Ein großes Werk mustergültig dargeboten. Auch hier überzeugt das Orchester. Frisch, beschwingt, virtuos, voller Elan. Offenbar inspiriert durch das quirlige Dirigat der Grinsekatze Venzago. Er tänzelt, er fuchtelt, er beschwört – es scheint anzukommen. Am Schluß gewinnt er die Herzen aller Mütter im Saal, indem er seinen Strauß mit dem Verweis auf das besondere Datum einer Dame in der ersten Reihe überläßt. Ein schöner Tag.
12. Mai 2012
Klavierabend – David Helfgott.
Konzerthaus Dortmund.
20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 8, Platz 15
Johann Sebastian Bach – Italienisches Konzert F-Dur, BWV 971
Ludwig van Beethoven – Klaviersonate op. 57 („Sonata appassionata“)
(Pause)
Sergej Rachmaninow – Klavierkonzert Nr. 3
Drei Zugaben
(Stuttgarter Symphoniker, Matthias Foremny)
Offenbar war die Idee, in Dortmund ein Konzert anzusetzen, während zeitgleich der BVB gegen die Bayern um den DFB-Pokal spielt, eher mittelgut. Muß wohl doch etwas dran sein, daß Fußball hier einen nicht unwesentlichen kulturellen Faktor darstellt. Beim WM-Achtelfinale Deutschland gegen England vor zwei Jahren war jedenfalls in der Oper Frankfurt mehr los. Wobei das Pauseninteresse einst wie heute stark von der Hatz nach Zwischenständen geprägt war, und auch im Anschluß glichen sich die Bilder auf den Straßen. Nach dem Klavier- also das Hupkonzert – schön, wenn es Grund zur Freude gibt.
Genau dies würde sicher auch David Helfgott unterschreiben. Die Gründe, sich über Musikalisches zu freuen, lieferte er gleich selbst. Er mag vielleicht nicht der beste Pianist auf Erden sein, aber ein außergewöhnlich großes Talent, den musikalischen Funken überspringen zu lassen, ist ihm nicht abzusprechen.
Warum besucht man ein David Helfgott-Konzert? Abgesehen von Spekulationen über die Beweggründe anderer lohnt der Blick auf die eigene Motivation. Ich stand also eines Tages vor diesem Plakat in Stuttgart, das ein Konzert mit besagtem Pianisten ankündigte. Einziger Bezugspunkt war der Film Shine und die durch ihn verbreitete tragische Biografie des Musikers. Ging es mir um das Programm? Weniger. Ging es um Voyeurismus? Wahrscheinlich eher. Um die Musik? Ich hoffe doch! Vor dem Konzert hätte ich gesagt: Es zählt das Ergebnis, unabhängig davon, ob es wegen oder trotz bestimmter Umstände zustande gekommen ist. Das heutige Konzert hat an dieser Einschätzung zwar im Kern nichts geändert, sie jedoch um eine berührende außermusikalische Erfahrung gerade im Hinblick auf das Musikalische erweitert.
Natürlich ist es möglich, David Helfgotts Spiel losgelöst von seiner Erscheinung und seinem Auftreten zu beschreiben: ein wenig formlos, mitunter fast breiig, dabei aber sehr organisch, fließend, voller Leben. Die Struktur im Bach und im Beethoven erscheint mir nicht sehr streng verfolgt, das Ganze vermittelt häufig einen improvisierten Charakter – natürlich ohne dabei den Notentext zu verändern. Helfgott verfügt über einen differenzierten Anschlag, wobei eine Tendenz zum Weichen erkennbar ist, zarte, ja zarteste Töne habe ich heute viele genossen, dynamische Ausbrüche waren dagegen selten. Dies führte dazu, daß der Klavierpart im Rachmaninow-Konzert teilweise vom Fortissimo des forschen Orchesters zugedeckt wurde. Insgesamt haben Solist und Orchester jedoch gut harmoniert, für meine Begriffe war man vielleicht nicht immer ganz zusammen, aber das Ergebnis – um den Gedanken wieder aufzugreifen – gab ihnen Recht. Müßte ich kurz zusammenfassen, was Helfgotts Spiel besonders macht, sind das zwei Elemente: rasend schnelle Läufe (an denen er offensichtlich eine Riesenfreude hat) als äußerste Extreme einer stetig getriebenen, nervösen Anlage, dazu im Kontrast Oasen zerbrechlichster Ruhe und Zartheit.
Wie gesagt, es ist möglich, all dies für sich zu betrachten, was jedoch wohl kaum jemandem der Anwesenden, mich eingeschlossen, während der Darbietung gelungen sein dürfte – worin ausdrücklich keine Bewertung liegt. Ich jedenfalls war in dieser Form nicht auf Helfgotts Auftreten vorbereitet. Ein gebeugter, älterer Herr in leuchtend rotem Hemd betritt die Bühne, nein, vielmehr rennt er freudestrahlend Richtung Piano, dabei ununterbrochen seine beiden erhobenen Daumen zum Gruß wippend gen Publikum gereckt. Hände werden geschüttelt, Küsse verteilt, als möchte er am liebsten erst mal jeden einzelnen Menschen hier im Saal umarmen, bevor er sich an sein Arbeitsgerät setzt. Und auch im Spiel scheint er diese Verbindung nicht abreißen lassen zu wollen. Sein Blick schweift in die ersten Sitzreihen; während die Werke unter seinen Händen entstehen spricht, singt, raunt, stöhnt, grunzt und seufzt er; immer wieder macht es den Eindruck, als wende er sich direkt an sein Publikum, um bestimmte Stellen zu kommentieren oder einfach nur deren Schönheit zu preisen.
Hatten viele Hörer schon mit Glenn Goulds dagegen regelrecht zurückhaltendem Begleitgesang Probleme, müßte man hier eigentlich verzweifeln. Dazu besteht jedoch (wie bei Gould) kein Anlaß. Nach kurzer Eingewöhnungsphase verflog meine Irritation und ich erhielt Einlaß in das System Helfgott. Eine Welt einer unglaublichen, dabei extrem individuellen Musikalität, einer Freude an Musik, wie man sie mitzuerleben nur selten Gelegenheit erfährt. Es klingt vielleicht abgeschmackt, aber an diesem Abend ging es nicht um Perfektion, sondern um das Wesen der Musik, was sie Menschen bedeutet und mit Menschen macht.
Das Rachmaninow-Konzert wurde ein Triumph – auch Dank des ungemein packenden, energisch-knackigen Dirigats von Herrn Foremny, das ich bereits in Schwerin und Berlin bewundern durfte. Der Mann ist mir extrem sympathisch. Und der einzige Dirigent, den ich kenne, der die Partitur selbst vor dem Konzert ans Pult bringt – naja, vielleicht war der entsprechende Mitarbeiter beim Public viewing. Die Akustik des Saales kann ich nach diesem Ersteindruck nicht wirklich einschätzen. Aufgrund der schlechten Auslastung hatte man den Raum mittels eines Vorhangs deutlich verkleinert, das Resultat war eher durchwachsen. Klang der Flügel sehr klar, waren manche Orchestergruppen (z.B. Celli) schlecht ortbar bzw. traten gegenüber anderen zurück. Generell schien mir je lauter, desto besser.
Optisch verströmt der Saal einen recht unterkühlten Charme – was nicht allein an den weißen Wänden und den Neonneckereien liegt, sondern auch an der übereifrigen Klimaanlage. Trotzdem scheint man über die Maßen Stolz auf den Bau zu sein. Wo sonst in Deutschland wird einem verboten, Fotos für das private Album zu schießen? Die Architektur sei rechtlich geschützt. Man habe (will sagen: verkaufe) schließlich eigene Bildbände. Ah ja. Der Ansatz ist durchaus nachvollziehbar – solch eine sterile Hütte kann wahrscheinlich nur ein Profifotograf ins rechte und erbauliche Licht setzen. So oder so ein starkes Konzept, das auf jeden Fall eine prima Stimmung unter den Gästen verbreitet, die, vom Personal darauf hingewiesen, ihre Fotohandys wieder sinken lassen. Vielleicht ist der Bunker einfach noch nicht abbezahlt und man braucht jeden Euro. Das würde zumindest die dezenten Werbetrümmer eines Baumarktes erklären, die die Foyers zieren. Oder um dessen Slogan zu zitieren: Ideen muß man haben.
Zurück zu Helfgott. Nach dem Klavierkonzert gibt es insgesamt drei Zugaben – Chatschaturjans Säbeltanz und Rimski-Korsakows Hummelflug jeweils mit eingebauter Vorspultaste sowie noch ein ruhiges Stück (Rachmaninow?) zum Abschluß. Standing ovations für den Pianisten, der sich freut wie ein Kind, nach jeder Zugabe auf der Bühne umherrennt, das halbe Orchester umarmt oder küsst (vor allem die Damen sind nicht vor ihm sicher) und immer wieder den Kontakt zum Publikum sucht, Hände schüttelt, Umarmungen schenkt. Die Leute toben. Sie lächeln. Sie lachen ihn nicht aus. Viele denken sicher: „Wahnsinn, daß so einer so etwas zustande bringt!“ Aber was ist schon „so einer“? Ein Mann, der Musik liebt und die Gabe besitzt, dieses Gefühl weiterzugeben, und sei es nur für die Dauer eines Abends.
Johann Sebastian Bach – Italienisches Konzert F-Dur, BWV 971
Ludwig van Beethoven – Klaviersonate op. 57 („Sonata appassionata“)
(Pause)
Sergej Rachmaninow – Klavierkonzert Nr. 3
Drei Zugaben
(Stuttgarter Symphoniker, Matthias Foremny)
Offenbar war die Idee, in Dortmund ein Konzert anzusetzen, während zeitgleich der BVB gegen die Bayern um den DFB-Pokal spielt, eher mittelgut. Muß wohl doch etwas dran sein, daß Fußball hier einen nicht unwesentlichen kulturellen Faktor darstellt. Beim WM-Achtelfinale Deutschland gegen England vor zwei Jahren war jedenfalls in der Oper Frankfurt mehr los. Wobei das Pauseninteresse einst wie heute stark von der Hatz nach Zwischenständen geprägt war, und auch im Anschluß glichen sich die Bilder auf den Straßen. Nach dem Klavier- also das Hupkonzert – schön, wenn es Grund zur Freude gibt.
Genau dies würde sicher auch David Helfgott unterschreiben. Die Gründe, sich über Musikalisches zu freuen, lieferte er gleich selbst. Er mag vielleicht nicht der beste Pianist auf Erden sein, aber ein außergewöhnlich großes Talent, den musikalischen Funken überspringen zu lassen, ist ihm nicht abzusprechen.
Warum besucht man ein David Helfgott-Konzert? Abgesehen von Spekulationen über die Beweggründe anderer lohnt der Blick auf die eigene Motivation. Ich stand also eines Tages vor diesem Plakat in Stuttgart, das ein Konzert mit besagtem Pianisten ankündigte. Einziger Bezugspunkt war der Film Shine und die durch ihn verbreitete tragische Biografie des Musikers. Ging es mir um das Programm? Weniger. Ging es um Voyeurismus? Wahrscheinlich eher. Um die Musik? Ich hoffe doch! Vor dem Konzert hätte ich gesagt: Es zählt das Ergebnis, unabhängig davon, ob es wegen oder trotz bestimmter Umstände zustande gekommen ist. Das heutige Konzert hat an dieser Einschätzung zwar im Kern nichts geändert, sie jedoch um eine berührende außermusikalische Erfahrung gerade im Hinblick auf das Musikalische erweitert.
Natürlich ist es möglich, David Helfgotts Spiel losgelöst von seiner Erscheinung und seinem Auftreten zu beschreiben: ein wenig formlos, mitunter fast breiig, dabei aber sehr organisch, fließend, voller Leben. Die Struktur im Bach und im Beethoven erscheint mir nicht sehr streng verfolgt, das Ganze vermittelt häufig einen improvisierten Charakter – natürlich ohne dabei den Notentext zu verändern. Helfgott verfügt über einen differenzierten Anschlag, wobei eine Tendenz zum Weichen erkennbar ist, zarte, ja zarteste Töne habe ich heute viele genossen, dynamische Ausbrüche waren dagegen selten. Dies führte dazu, daß der Klavierpart im Rachmaninow-Konzert teilweise vom Fortissimo des forschen Orchesters zugedeckt wurde. Insgesamt haben Solist und Orchester jedoch gut harmoniert, für meine Begriffe war man vielleicht nicht immer ganz zusammen, aber das Ergebnis – um den Gedanken wieder aufzugreifen – gab ihnen Recht. Müßte ich kurz zusammenfassen, was Helfgotts Spiel besonders macht, sind das zwei Elemente: rasend schnelle Läufe (an denen er offensichtlich eine Riesenfreude hat) als äußerste Extreme einer stetig getriebenen, nervösen Anlage, dazu im Kontrast Oasen zerbrechlichster Ruhe und Zartheit.
Wie gesagt, es ist möglich, all dies für sich zu betrachten, was jedoch wohl kaum jemandem der Anwesenden, mich eingeschlossen, während der Darbietung gelungen sein dürfte – worin ausdrücklich keine Bewertung liegt. Ich jedenfalls war in dieser Form nicht auf Helfgotts Auftreten vorbereitet. Ein gebeugter, älterer Herr in leuchtend rotem Hemd betritt die Bühne, nein, vielmehr rennt er freudestrahlend Richtung Piano, dabei ununterbrochen seine beiden erhobenen Daumen zum Gruß wippend gen Publikum gereckt. Hände werden geschüttelt, Küsse verteilt, als möchte er am liebsten erst mal jeden einzelnen Menschen hier im Saal umarmen, bevor er sich an sein Arbeitsgerät setzt. Und auch im Spiel scheint er diese Verbindung nicht abreißen lassen zu wollen. Sein Blick schweift in die ersten Sitzreihen; während die Werke unter seinen Händen entstehen spricht, singt, raunt, stöhnt, grunzt und seufzt er; immer wieder macht es den Eindruck, als wende er sich direkt an sein Publikum, um bestimmte Stellen zu kommentieren oder einfach nur deren Schönheit zu preisen.
Hatten viele Hörer schon mit Glenn Goulds dagegen regelrecht zurückhaltendem Begleitgesang Probleme, müßte man hier eigentlich verzweifeln. Dazu besteht jedoch (wie bei Gould) kein Anlaß. Nach kurzer Eingewöhnungsphase verflog meine Irritation und ich erhielt Einlaß in das System Helfgott. Eine Welt einer unglaublichen, dabei extrem individuellen Musikalität, einer Freude an Musik, wie man sie mitzuerleben nur selten Gelegenheit erfährt. Es klingt vielleicht abgeschmackt, aber an diesem Abend ging es nicht um Perfektion, sondern um das Wesen der Musik, was sie Menschen bedeutet und mit Menschen macht.
Das Rachmaninow-Konzert wurde ein Triumph – auch Dank des ungemein packenden, energisch-knackigen Dirigats von Herrn Foremny, das ich bereits in Schwerin und Berlin bewundern durfte. Der Mann ist mir extrem sympathisch. Und der einzige Dirigent, den ich kenne, der die Partitur selbst vor dem Konzert ans Pult bringt – naja, vielleicht war der entsprechende Mitarbeiter beim Public viewing. Die Akustik des Saales kann ich nach diesem Ersteindruck nicht wirklich einschätzen. Aufgrund der schlechten Auslastung hatte man den Raum mittels eines Vorhangs deutlich verkleinert, das Resultat war eher durchwachsen. Klang der Flügel sehr klar, waren manche Orchestergruppen (z.B. Celli) schlecht ortbar bzw. traten gegenüber anderen zurück. Generell schien mir je lauter, desto besser.
Optisch verströmt der Saal einen recht unterkühlten Charme – was nicht allein an den weißen Wänden und den Neonneckereien liegt, sondern auch an der übereifrigen Klimaanlage. Trotzdem scheint man über die Maßen Stolz auf den Bau zu sein. Wo sonst in Deutschland wird einem verboten, Fotos für das private Album zu schießen? Die Architektur sei rechtlich geschützt. Man habe (will sagen: verkaufe) schließlich eigene Bildbände. Ah ja. Der Ansatz ist durchaus nachvollziehbar – solch eine sterile Hütte kann wahrscheinlich nur ein Profifotograf ins rechte und erbauliche Licht setzen. So oder so ein starkes Konzept, das auf jeden Fall eine prima Stimmung unter den Gästen verbreitet, die, vom Personal darauf hingewiesen, ihre Fotohandys wieder sinken lassen. Vielleicht ist der Bunker einfach noch nicht abbezahlt und man braucht jeden Euro. Das würde zumindest die dezenten Werbetrümmer eines Baumarktes erklären, die die Foyers zieren. Oder um dessen Slogan zu zitieren: Ideen muß man haben.
Zurück zu Helfgott. Nach dem Klavierkonzert gibt es insgesamt drei Zugaben – Chatschaturjans Säbeltanz und Rimski-Korsakows Hummelflug jeweils mit eingebauter Vorspultaste sowie noch ein ruhiges Stück (Rachmaninow?) zum Abschluß. Standing ovations für den Pianisten, der sich freut wie ein Kind, nach jeder Zugabe auf der Bühne umherrennt, das halbe Orchester umarmt oder küsst (vor allem die Damen sind nicht vor ihm sicher) und immer wieder den Kontakt zum Publikum sucht, Hände schüttelt, Umarmungen schenkt. Die Leute toben. Sie lächeln. Sie lachen ihn nicht aus. Viele denken sicher: „Wahnsinn, daß so einer so etwas zustande bringt!“ Aber was ist schon „so einer“? Ein Mann, der Musik liebt und die Gabe besitzt, dieses Gefühl weiterzugeben, und sei es nur für die Dauer eines Abends.
8. Mai 2012
Klavierabend – Grigory Sokolov.
Laeiszhalle Hamburg.
19:30 Uhr, 1. Rang links, Loge 5, Reihe 3, Platz 7
Jean-Philippe Rameau – Suite in re
Wolfgang Amadeus Mozart – Sonate a-Moll KV 310 (300d)
(Pause)
Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Händel op. 24
Johannes Brahms – Drei Intermezzi op. 117
Sechs Zugaben
Theorie A: Ich war heute, bedingt durch verschiedene Faktoren, nicht wirklich aufnahmefähig und mußte daher weite Teile des Konzerts unverdaut an mir vorüberrauschen lassen.
Eingekeilt zwischen Programmheftwürgerin links und Plapperpärchen rechts, auf einem Platz mit durchwachsener Akustik, fernab der Konzentrations-Demarkationslinie, irrlichterte mein Fokus zwischen Tastenexegese und Mordgelüsten, gottlob immer wieder durch pianistische Blitzschläge aus Richtung der verdunkelten Bühne an Zweck und Wert dieser Veranstaltung erinnert.
Theorie B: Auch die Perfektion hat mal einen schlechten Tag.
In jedem Fall empfand ich Sokolovs Spiel anfangs weniger zwingend als bei der Bremer Ausgabe des gleichen Programms im März (Bremen scheint mir generell Glück zu bringen). Der Rameau eine Spur unrunder, die Triller etwas lascher, die Läufe weniger perlend. Jetzt müßte man eine Aufnahme beider Konzerte zwecks Objektivierung gegenüberstellen. Mein ganz und gar subjektives Empfinden hatte aber heute unzweifelhaft Probleme reinzukommen. Ich wäre allerdings wenig verwundert, wenn eine neutrale Instanz die eingangs beschriebenen Unliebsamkeiten als Quelle meiner Unzufriedenheit festmachte.
Urigerweise wurde dieser lähmende Dunst erst mit den letzten Takten der Suite nachhaltig aufgerissen, bis dahin plätscherte das Konzert für meine Begriffe so dahin. In diesem Moment stand er wieder deutlich vor mir, der gewohnte Sokolov – sofern man sich überhaupt an das Höchste gewöhnen kann. Im Mozart geschah dann das ersehnt-bekannte Wunder: das Unerhörte zu Gehör gebracht. Wie soll man das beschreiben, was sich im zweiten Satz der Sonate akustisch ereignete? Ereignis ist in jedem Fall schon mal ein richtiger Begriff. Über mein Verhältnis, oder besser Nicht-Verhältnis zu Mozart habe ich mich ja bereits of genug geäußert – in diesen Minuten spielte das alles keine Rolle. Für die Dauer dieses Andante war ich ganz und gar Mozartianer, ein unscheinbares Tor wurde ganz weit aufgestoßen und eröffnete mir eine unendlich vertraute Aussicht auf etwas Unvertrautes.
Was sind schon Worte. Nach dem Bremer Konzert habe ich zur Genüge versucht, die Sokolovschen Vorzüge im Einzelnen zu beschreiben. Auch bezüglich der Wirkung kann ich mich nur wiederholen: Staunen, Verblüffung, Verzücken. Am Ende läuft es auf ein Gefühl hinaus: Dankbarkeit. Dieser seltene Zustand, sich vollends musikalisch geborgen, beschirmt zu wissen, erfüllt von einer Interpretation, die, ihrem Status als eine mögliche Interpretation von vielen entwachsen, das Wesen des Stückes so klar und deutlich formuliert, als spräche der Komponist persönlich, als formte sich ein Gedanke, eine Idee zum ersten Male.
Die Variationen über ein Thema Händels treffen Welle um Welle mit stetig steigernder Wucht ihr Ziel – eine Demonstration struktureller Konsequenz mit der Überzeugungskraft eines Güterzuges in voller Fahrt. Der Beginn des ersten Intermezzo op. 117 läßt mich immer an Parsifal denken, genauer an die Verwandtschaft zum Glaubensmotiv, trotzdem ist das Stück ganz Brahms. Wie abwegig ist doch die Vorstellung, daß sich Musikfreunde einmal ernsthaft zwischen beiden zu wählen genötigt sahen. Das kommt mir besonders bei diesem Stück in den Sinn, wahrscheinlich weil sein Charakter so versöhnlich stimmt.
Mit sich im Reinen sein, ankommen, Glück empfinden. Wäre ich Arzt, würde ich Sokolovkonzerte verschreiben – ich kann mir wenig Therapieansätze vorstellen, die in ihren Erfolgsaussichten einer Garantie näher kämen.
Jean-Philippe Rameau – Suite in re
Wolfgang Amadeus Mozart – Sonate a-Moll KV 310 (300d)
(Pause)
Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Händel op. 24
Johannes Brahms – Drei Intermezzi op. 117
Sechs Zugaben
Theorie A: Ich war heute, bedingt durch verschiedene Faktoren, nicht wirklich aufnahmefähig und mußte daher weite Teile des Konzerts unverdaut an mir vorüberrauschen lassen.
Eingekeilt zwischen Programmheftwürgerin links und Plapperpärchen rechts, auf einem Platz mit durchwachsener Akustik, fernab der Konzentrations-Demarkationslinie, irrlichterte mein Fokus zwischen Tastenexegese und Mordgelüsten, gottlob immer wieder durch pianistische Blitzschläge aus Richtung der verdunkelten Bühne an Zweck und Wert dieser Veranstaltung erinnert.
Theorie B: Auch die Perfektion hat mal einen schlechten Tag.
In jedem Fall empfand ich Sokolovs Spiel anfangs weniger zwingend als bei der Bremer Ausgabe des gleichen Programms im März (Bremen scheint mir generell Glück zu bringen). Der Rameau eine Spur unrunder, die Triller etwas lascher, die Läufe weniger perlend. Jetzt müßte man eine Aufnahme beider Konzerte zwecks Objektivierung gegenüberstellen. Mein ganz und gar subjektives Empfinden hatte aber heute unzweifelhaft Probleme reinzukommen. Ich wäre allerdings wenig verwundert, wenn eine neutrale Instanz die eingangs beschriebenen Unliebsamkeiten als Quelle meiner Unzufriedenheit festmachte.
Urigerweise wurde dieser lähmende Dunst erst mit den letzten Takten der Suite nachhaltig aufgerissen, bis dahin plätscherte das Konzert für meine Begriffe so dahin. In diesem Moment stand er wieder deutlich vor mir, der gewohnte Sokolov – sofern man sich überhaupt an das Höchste gewöhnen kann. Im Mozart geschah dann das ersehnt-bekannte Wunder: das Unerhörte zu Gehör gebracht. Wie soll man das beschreiben, was sich im zweiten Satz der Sonate akustisch ereignete? Ereignis ist in jedem Fall schon mal ein richtiger Begriff. Über mein Verhältnis, oder besser Nicht-Verhältnis zu Mozart habe ich mich ja bereits of genug geäußert – in diesen Minuten spielte das alles keine Rolle. Für die Dauer dieses Andante war ich ganz und gar Mozartianer, ein unscheinbares Tor wurde ganz weit aufgestoßen und eröffnete mir eine unendlich vertraute Aussicht auf etwas Unvertrautes.
Was sind schon Worte. Nach dem Bremer Konzert habe ich zur Genüge versucht, die Sokolovschen Vorzüge im Einzelnen zu beschreiben. Auch bezüglich der Wirkung kann ich mich nur wiederholen: Staunen, Verblüffung, Verzücken. Am Ende läuft es auf ein Gefühl hinaus: Dankbarkeit. Dieser seltene Zustand, sich vollends musikalisch geborgen, beschirmt zu wissen, erfüllt von einer Interpretation, die, ihrem Status als eine mögliche Interpretation von vielen entwachsen, das Wesen des Stückes so klar und deutlich formuliert, als spräche der Komponist persönlich, als formte sich ein Gedanke, eine Idee zum ersten Male.
Die Variationen über ein Thema Händels treffen Welle um Welle mit stetig steigernder Wucht ihr Ziel – eine Demonstration struktureller Konsequenz mit der Überzeugungskraft eines Güterzuges in voller Fahrt. Der Beginn des ersten Intermezzo op. 117 läßt mich immer an Parsifal denken, genauer an die Verwandtschaft zum Glaubensmotiv, trotzdem ist das Stück ganz Brahms. Wie abwegig ist doch die Vorstellung, daß sich Musikfreunde einmal ernsthaft zwischen beiden zu wählen genötigt sahen. Das kommt mir besonders bei diesem Stück in den Sinn, wahrscheinlich weil sein Charakter so versöhnlich stimmt.
Mit sich im Reinen sein, ankommen, Glück empfinden. Wäre ich Arzt, würde ich Sokolovkonzerte verschreiben – ich kann mir wenig Therapieansätze vorstellen, die in ihren Erfolgsaussichten einer Garantie näher kämen.
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