19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 6, Platz 220
Oper ist nüchtern betrachtet doch ein Ding der Unmöglichkeit, besser: der Unwahrscheinlichkeit. Vergegenwärtigt man sich die Vielzahl der Faktoren, die im Detail und in der Gesamtheit glücken und ineinandergreifen müssen, um potenzielle Vollkommenheit in stattfindende zu überführen, könnte man fast von einem hoffnungslosen Unterfangen sprechen. Sofern man überhaupt Vollkommenheit als mögliche Option in Betracht zieht. Der heutige Abend bewies wieder einmal, daß es sich allen Stochastikern zum Trotz lohnt, jederzeit mit der Einlösung des Unwahrscheinlichen zu rechnen.
Womit soll ich anfangen? Mit dem zauberischen Orchester vielleicht, das diesen Albtraum eines Menschenlebens auf das Differenzierteste, Bedrohlichste, Erschütterndste akustisch begleitet? Mit dem geradezu suggestiven Dirigat Lothar Koenigs, das fesselnder nicht hätte ausfallen können, die dynamischen Spitzen sorgsam aufsparend, die Last des grausigen Gewebes in stetiger Steigerung über den Zuhörern ausbreitend?
Wie gesagt, so gut eine Aufführung in Teilen häufig auch ist, trübt in der Regel doch immer irgendetwas das Ganze. Ausfälle, Abfälle, mitunter Kleinigkeiten. Nichts von alledem heute. Über die tadellose Orchesterleistung hinaus war eine Sängerriege, für die der Begriff Idealbesetzung schon fast eine Untertreibung darstellt, Garant für musikalische Weltklasse. Welch Glücksfall, daß an diesem Abend ausnahmslos alle Beteiligen nicht nur stimmlich, sondern gerade auch szenisch eine kollektive Meisterleistung boten.
Allein die Kombination Wolfgang Schmidt (Hauptmann) / Clive Bayley (Doktor) dürfte an Kälte, Boshaftigkeit und Häme kaum zu überbieten sein. Sozusagen das Traumpaar der Menschenverachtung. Die morbide, zombiehafte Kostümierung trägt das Ihrige dazu bei. Wie gesagt, jeder einzelne Sänger auch der kleinsten Rolle hat an diesem Abend ein Sonderlob verdient, gemäß dem Gewicht ihrer Partien hallt dabei die Leistung von Waltraut Meier als Marie und Simon Keenlyside als Wozzeck besonders lange nach. Beide eint eine Zerrissenheit, die geradezu physisch erlebbar ist. Marie in ihrem Schwanken zwischen dem ersehnten kleinen Glück der Familie und den Verlockungen eines besseren Lebens an der Seite des Tambourmajors, Wozzeck unter dem Druck, in dieser mitleidlosen Gesellschaft funktionieren zu wollen, der sich, durch all die grausamen Einflüsse auf ihn stetig erhöhend, schließlich in Gewalt sein Ventil sucht.
Gerade in der Betrachtung dieser beiden Hauptrollen greifen gängige Bewertungskriterien einer Opernaufführung nur bedingt – die Größe und Wucht der Leistung leitet sich weniger von einer schönen Phrasierung hier und einem geglückten Spitzenton dort ab, als vielmehr aus bedingungsloser Hingabe im Sinne einer Charakterdarstellung, zu der in diesem Fall vom Autor auch das gesungene Wort vorgesehen ist. Schwer vorstellbar der Eindruck, den diese Art des Musiktheaters bei seinem ersten Erscheinen auf Augen und Ohren gemacht hat. Meine Sinne jedenfalls erfuhren an diesem Abend einen wahren Taumel, nicht zuletzt auch aufgrund der genialen Inszenierung.
Das schwebende Zimmer vor dem Schwarz des Bühnenschlundes ist für sich genommen schon von unglaublicher, bannender Wirkung. Der eigentlich einfache Effekt, den Raum in diesem Nichts in den Vorder- oder Hintergrund bewegen zu können, entfaltet einen optischen Sog sondergleichen. Doch über diesen Rahmen hinaus hält die Inszenierung eine Unzahl faszinierender, verstörender Elemente und Details bereit, die diese Produktion hoch über das übliche Maß heben. Die permanent bedrückende Stimmung einer Schreckenswelt – umherirrende Gruppen, mal wird Brot, mal Geld vor ihnen hingeworfen, sie stürzen sich darauf wie Tiere bei der Fütterung.
Das Wasser, in dem Wozzeck sein Ende finden wird, ist von Anfang an da, es bedeckt den Boden, es tropft von der Decke, das Geräusch des Wassers begleitet uns unentwegt. Die Akteure scheinen eher Untote, einer Welt des Expressionismus entsprungen, ihre grotesken Masken und Kostüme klammern das menschliche Moment aus. Dennoch ist Wozzecks Welt (unterdrückte) Emotion pur. Viele Messer werden ihm symbolisch gereicht, um seinem Hass, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Viele Matratzen für den umherirrenden Geist, der im Leben nicht zur Ruhe kommen kann.
Das Band zwischen ihm und Marie, der Junge, wird in dieser Regiearbeit besonders ins Zentrum gerückt, ist nicht Requisit, sondern füllt trotz oder gerade wegen seiner Wortlosigkeit die Rolle des zwischen dem emotionalen Unvermögen der Erwachsenen aufgeriebenen eigentlichen Opfers besonders nahegehend aus. Am Ende bleibt dem Waisen nichts als der Spott der anderen Kinder.
Fazit: Erschütterndes Musiktheater in München, eine Sternstunde: Schreckliche Vollkommenheit – Vollkommenheit des Schreckens.
Alban Berg – Wozzeck
Musikalische Leitung – Lothar Koenigs
Inszenierung – Andreas Kriegenburg
Bühne – Harald B. Thor
Kostüme – Andrea Schraad
Licht – Stefan Bolliger
Choreographie – Zenta Haerter
Chor – Sören Eckhoff
Dramaturgie – Miron Hakenbeck
Kinderchor – Kinderchor der Bayerischen Staatsoper
Wozzeck – Simon Keenlyside
Tambourmajor – Roman Sadnik
Andres – Kevin Conners
Hauptmann – Wolfgang Schmidt
Doktor – Clive Bayley
1. Handwerksbursche – Christoph Stephinger
2. Handwerksbursche – Francesco Petrozzi
Der Narr – Kenneth Roberson
Marie – Waltraud Meier
Margret – Heike Grötzinger
Mariens Knabe – Alexander Lakatár
Bursche – Jochen Schäfer
Soldat – Jason A. Smith
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper