6. Dezember 2018

Klavierabend – Igor Levit.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 8, Reihe 2, Platz 6


Johannes Brahms – Ciaconna aus der Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 
von Johann Sebastian Bach
Ferruccio Busoni – Fantasia nach J.S. Bach BV 253
Robert Schumann – Geistervariationen Es-Dur WoO 24

(Pause)

Franz Liszt – Feierlicher Marsch zum heiligen Gral aus »Parsifal« 

(Wagner) S 450
Ferruccio Busoni – Fantasie und Fuge über den Choral
»Ad nos, ad salutarem undam« S 259 von Franz Liszt (Meyerbeer)

Zugabe: Schumann?



Die ebenso verblüffende wie traurige Erkenntnis des Abends: Das Publikum in der Laeiszhalle ist (mittlerweile?) ebenso von ignorantem Pack durchsetzt wie die dafür oft von mir gescholtene Kundschaft der Elbphilharmonie. Wow, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet – die mieseste Atmosphäre, die ich seit langem in einem Konzert, selbst und vor allem auch Soloabend, zu erleiden hatte. Die ganze Klaviatur (!) der Asozialitäten und Unmusikalismen in geballter, komprimierter Form bereits bis zur Halbzeit weidlich ausgereizt. Huster im Sekundentakt, ach was, regelrechte pulmologische Exzesse, vom verendenden Röcheln bis zur schleimgeballten Eruption, ein vollendet durchgehaltener Klingelton, später ein weiteres pianissimo-zerschneidendes Handy-Signal, diverses Lehnengeballer und strategisch günstigst platziertes Gedönsfallenlassen, abgerundet durch alle Feinheiten der nervösen Zappelphillipperei in besonders ruhigen Momenten – all dies machten den von Dante sträflich ausgelassenen Kreis der Hölle durch akustische Folter perfekt, der dummerweise von der uneingeschränkt beeindruckenden pianistischen Leistung untermalt wurde, die ich mir nach München (Link) von Igor Levit erhofft hatte.

Jener hatte eine Werkauswahl im Gepäck, welche ich mir in ihrer programmatischen Wucht nicht beeindruckender hätte erträumen können. Gerade für mich als Opern-Freak im Allgemeinen und Busoni-Fan im Besonderen war diese Zusammenstellung ein Geschenk, bzw. hätte es werden können, wenn, ja wenn ... Umso frustrierender, da der Vortrag des Russen an diesem Abend kaum zu toppen sein dürfte. Und welch eine Leistung, in diesem Banausenmoloch als Solist alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen zu lassen – sieht man von Levits fassungslosem Kopfschütteln ab, als ein weiteres Handy das Verklingen eines Werkes jäh durchschnitt. Was könnte man heute nicht alles über pianistische Feinheiten fabulieren, über die überlegene Technik und Ausdruckskraft Levits ins Schwärmen geraten, doch leider ist mir heute ganz und gar nicht zum Schwärmen, denn zum Kotzen zumute. Dieses Publikum ist wirklich eine Schande für Hamburgs Kulturszene.

These: Die Elbphilharmonie bringt mehr Menschen in klassische Konzerte, auch in die Laeiszhalle, aber leider die falschen. Das hat gar nichts mit „Erfahrung“ oder „Überforderung“ zu tun – auch wenn ich noch nie im Sternerestaurant gespeist hab, komme ich als an die Gebräuche der allgemeinen Koexistenz herangeführter Mensch nicht auf die Idee, die Füße auf den Tisch zu legen. Wer sich beim Klavierabend nicht ruhig zu verhalten weiß, ist nicht weniger asozial und gehört je nach „Leiden“ entweder ins Lungensanatorium, die Nervenheilanstalt oder gleich zum Silbereisen. Immer wieder verblüffend: beim virtuosen Flügelgedonner des Liszt/Busoni/Meyerbeer-Finales wird seltsamerweise nicht mehr gehustet – da ist dem Künstler dann die Aufmerksamkeit selbst des letzten Akustik-Analphabeten gewiß.

Es war aber auch alles am Start. Eines der Highlights war zweifellos ein alter Klassiker: der Bonbonauswickler in Zeitlupe. Durchaus mit inhaltlichen Bezügen zur dadurch geschändeten Parsifal-Weihfestspiel-Verzückung – zum Raum wurde hier die Zeit, wenn auch ein grundweg hässlich eingerichteter. Ansonsten wie gesagt das Hauptproblem des Abends eine akustische Dichtung in der Nachfolge Liszts, frei nach Strauss: Tod und Verwesung. Allerdings fast noch schlimmer als jene Hustinettenbären sind die, die sich darüber hörbar echauffieren (um dann selbst sein Programmheft lautstark fallen zu lassen und nach ihm rumzusuchen), oder der verhinderte Kulturattaché hinter mir, der zwar um das Privileg weiß, in einer Probe einen leeren und somit stillen Saal genießen zu dürfen, trotzdem selbst aber die dummen Husterer als seines Zeichens dümmste Sau im Stall gut hörbar kommentiert.

Ab einem gewissen Zeitpunkt – man hat erkannt, das es zwecklos ist, dem musikalischen Fortgang konzentriert Folge leisten zu wollen – nimmt man verbittert aber leise (!) ganz neue Möglichkeiten der Instrumentation wahr. Das Handyfernorchester beispielsweise. An Mahlers Wirken ohrenscheinlich angelegt, funktioniert es doch gewissermaßen umgedreht: erst laut im Saal, dann ein einzelner trockener Schicksals-Hammerschlag der Sitzlehne, dann langsam beim Raustraben aus dem Saal verlöschend, nach dem Zufallen der Türe noch eine Weile von draußen zu vernehmen, jetzt leise, aber durchaus noch prägnant – ein Ton gewordenes Symbol für die Erinnerung an die gute alte (respektvolle) Zeit, die es so wahrscheinlich doch nie gab.

Einschub Funkuhren: Welcher Musikliebhaber kann eine Funkuhr besitzen, also so ein Ding, welches zu jeder vollen Stunde das Signal einer weiteren (überstandenen?) Stunde von sich gibt. Ich werde es wohl nicht mehr verstehen.

Wahrscheinlich sind das ganz wichtige Menschen, die immer und überall über alles informiert sein müssen, zur Not auch per Piepton. Überhaupt gehen scheinbar nur ganz wichtige Menschen ins Konzert, zumindest sind es solche, die ihre eigene Existenz klar über jene der anderen Beteiligten stellen. Wie der Herr, der in seinem Hustenanfall zumindest anstandshalber (aber natürlich doch ohne Anstand – knallende Lehne muss sein!) den Saal verlässt. Jedoch wenig später, die Loge in gleißendes Licht hüllend, selbige wieder betritt, erst hinten stehend, um dann schließlich doch bei laufendem Konzert seinen Platz an der Sonne in der ersten Reihe wieder einzunehmen, den er mit seiner Störung mehr als verwirkt hat. Das Ego der Leute. Ich, ich ich. Das gleiche Bild nach dem Konzert an der Garderobe: (Hauptsächlich alte) Menschen ohne Benehmen, die zur Mantelausgabe drängeln, als ginge gleich der letzte Zug ins Paradies. „Lassen Sie mich durch, ich bin Ar ... mleuchter!“

Dabei hätten diese armseligen Kulturtouristen doch ganz ergriffen oder beseelt nach Hause schweben müssen, wenn sie ein aufnahmefähiges Herz dafür besäßen, was Herr Levit da heute für sie veranstaltet hat. Für mich war der Abend – trotz der katastrophalen Umstände – nichts weniger als eine Wiedererstehung des Virtuosenkonzerts, vielleicht im Geiste Liszts – die Faszination des Virtuosen, bei der es aber um mehr geht als Technik und Artistik am Flügel – die Architektur der Überwältigung, durchaus mit dem Element der physischen Einwirkung und Berauschung, im Lauten wie im Leisen, im Schnellen wie im Langsamen, im Klingenden wie im Unhörbaren. Bestimmte einzelne Momente, das Wissen um die Möglichkeit dieser Intensität, trösten ein wenig darüber hinweg, ihre vollständige Einlösung heute nicht erfahren zu haben.