4. März 2017

Schlafes Bruder – Joachim Vogelsänger.
Theater Lüneburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 20, Platz 7



Etikettenschwindel in Lüneburg: Statt der erhofften (und postulierten) Umsetzung des Bestsellers als Musiktheater, gibt es einen schnöden Ballettabend mit erweiterter musikalischer Staffage, dem in homöopathischen Dosen eingestreute Lesungsrudimente den Anschein von Geschlossenheit verleihen sollen – vergebens. Die zur Unkenntlichkeit vertanzte Geschichte des über alle Maßen Begabten, Liebenden und nicht zuletzt Verstoßenen, gerät zur seichten Folie für den krachend gescheiterten Versuch, aus der losen Folge einer zweistündigen Best-of-Bach-Collage (plus Füller) ein abendfüllendes Handlungsgerüst zu zimmern.

Die Liste der Unzulänglichkeiten ist lang. In der vielversprechenden Einführung wurde viel über die Tauglichkeit von Bachs Musik gesprochen, in (anderen) szenischen Zusammenhängen zu wirken – Stickwort Affekte. Prinzipiell möchte ich dies nicht ausschließen, in der unmotivierten Aneinanderreihung seiner bekanntesten Vokal- aber auch Instrumentalkompositionen für diese Produktion wurde allerdings jeglicher Spannungsaufbau konsequent vermieden, von handlungsunterstützendem roten Faden gar nicht zu sprechen. Hit folgt auf Hit, die Bezüge zur Geschichte mögen in ihrer theoretischen Konstruiertheit sogar teilweise nachvollziehbar sein, entfalten jedoch selten bis nie dramaturgische Finesse. Eine rühmliche Ausnahme: Während die Hexenjagd auf den Sündenbock der Gemeinde von atonaler, bedrohlicher Klangkulisse begleitet wird (Chorimprovisation I), die Raserei und Hass treffend transportiert, folgt in der nächsten Szene mit dem Griff zum naiven Bauernidyll Annette Thomas ein größtmöglicher Bruch, der die Bigotterie der Dörfler entlarvt – Der Fremdkörper ist entfernt, die „heile Welt“ dreht sich trotz etwaiger Reue weiter. Vielleicht bezeichnend, dass hier gerade die Kombination zweier Nicht-Bach-Stücke die dramaturgische Nulllinie unterbricht.

Abgesehen davon, dass ich in der irrigen Annahme nach Lüneburg fuhr, ein neues Musiktheaterwerk zu erleben, und keinen Ballettabend, ist gegen Tanztheater nichts einzuwenden. Sofern es fesselnd, abwechslungsreich, originär ist. Ich bin kein großer Ballettexperte, aber die Lüneburger Choreografie ist, neben schönen Einzelheiten, geprägt von ermüdenden Wiederholungen und Plattheiten. Durch Tanz lassen sich Inhalte ausdrücken, definitiv, aber wenn es so comichaft illustrativ erfolgt wie teilweise hier, bin ich raus. Anderen scheint gerade die Verbindung von Physischem und „Humor“ vorzüglich zu gefallen: Das Micky-Mousing-Getrappel zu Gesangskapriolen oder die getanzte Umsetzung der lautmalerischen Stöhn- und Hechelvorlage des Chores, um die sexuellen Ausschweifungen der braven Bürger zu präsentieren – hui, die bumsen da, hi hi. Klamauk geht immer. Aber auch weniger „lustig“ angelegte Szenen entfalten durch ihre überzogen illustrative Choreografie eher unfreiwillig komischen Charme, etwa wenn Elias zu exaltierten Gesten, die jeden Stummfilm subtil erscheinen lassen, seinem Zorn auf Gott Luft macht.

Bleibt noch ein kurzer Blick auf die musikalische Güte des Abends. Leider reißen es auch hier die Damen und Herren nicht heraus. Die Sänger – szenisch zu einer Art Zwitterdasein aus mehr oder weniger teilnahmsloser Deko im Kostüm und Träger einer krampfhaft implementierten Verbindung zur Jetztzeit verdammt – sind allesamt keine Experten für die Anforderungen der Barockmusik. Was mitunter recht brutal zu hören ist. Vergeblich ausgefochtene Koloraturkämpfe, Flexibilitätsengpässe. Nicht jeder Opernstimme schmeichelt das Oratorium- oder Kantatenidiom. Der Chor nicht allein örtlich begriffen ein ums andere Mal nicht zusammen, das Lüneburger Orchester unauffällig bis mau (matte Streicher im Air) unter uninspirierter Leitung, die Orgel aus der Konserve ein akustischer Bruch.

Fazit: Abendfüllendes Handlungsballett nennt man jene Gattung, für die John Neumeier gefeiert wird – Olaf Schmidt hat sich mit Schlafes Bruder sowohl semantisch (Musiktheater) als auch im Ergebnis an seinem großen Vorbild böse verhoben.


Schlafes Bruder – nach dem Roman von Robert Schneider
Musikalische Leitung – Joachim Vogelsänger
Inszenierung und Choreographie – Olaf Schmidt
Bühnenbild – Barbara Bloch
Kostümbild – Susanne Ellinghaus

Musik: Johann Sebastian Bach, Arvo Pärt, Claudio Monteverdi, Jean Guillou, Annette Thoma, Franz Schubert, Richard Trunk, Wolfgang Amadeus Mozart, Georg Friedrich Händel

Sänger:
Signe Heiberg, Franka Kraneis, Regina Pätzer, Ulrich Kratz, Timo Rößner

Tänzer:
Dorfbewohnerin Elsbeth – Júlia Cortés
Dorfbewohnerin / Das Kind – Rhea Gubler
Burga – Gabriela Luque
Seelenzilli – Giselle Poncet
Seffin – Claudia Rietschel
Meistenteils – Anibal dos Santos
Peter – Wallace Jones
Dorfbewohner / Elias 2 – Wout Geers
Lukas – Francesc Fernández Marsal
Dorfbewohner / Elias 1 – Phong Le Thanh
Seff – Matthew Sly

Lüneburger Symphoniker
Haus- und Extra-Chor
Kantoreien von St. Johannis und St. Michaelis